Ahoi Polaroid
Schweiz. Als hätten die zu Hause noch nie so was gesehen. Die Reisegruppe in dem kleinen Schnellboot war jedenfalls außerordentlich fasziniert. Geradezu außer sich. Sie hatten allen Grund dazu. Der Engabreen hing wie ein Leintuch vom Berg herunter und streckte seine Zunge fast ins Meer.
Nur Plotek blieb gelassen. So gelassen, dass er sich nicht einmal das Fernrohr borgte, um dem ohnehin schon nahen Gletscher noch näher zu kommen. Vinzi auch nicht.
An der Schieferinsel Gronoy hatten einige der Reisenden das Hurtigruten-Schiff verlassen, um diesem Seitenarm des Svartisen-Gletschers mit dem Namen Engabreen näher zu kommen. Plotek und Vinzi waren auch dabei, aber nur auf Druck von Swantje. Nach der Gletscherbesichtigung sollten sich die Reisenden anschließend auf einer Busreise und einem kleinen Landausflug bis nach Bodø begeben. Um dort schließlich, nach einem kurzen Abstecher zum Naturschauspiel Saitstraumen, wieder an Bord der MS Finnmarken zu gelangen.
Plotek hatte keine Lust auf Landausflug oder Busreise. Er wäre viel lieber an Bord geblieben. Trotz der verheißungsvollen Versprechen von Swantje, die den Gletscher als »einmalige Attraktion« anpries, einer Marienerscheinung gleich. Die auch die Fahrt mit dem Bus auf der Kystriksveien, der Reichsstraße 17, als »Reise am Rand des Himmels« feilbot. Wo auch immer sie das gelesen hatte. Der Anblick des Gletschers hätte Plotek jedenfalls auch aus der Ferne gereicht. Vinzi allerdings, mittlerweile ganz in den Fängen von Swantje verstrickt, hatte zur Entscheidungsfindung wieder Schnick, schnack, schnuck vorgeschlagen. Wobei Plotek ein weiteres Mal verloren und sich dem Willen des Verstrickten gebeugt hatte.
»Dieser Gletscher ist etwas Besonderes«, erklärte nun die Reiseleiterin, eine junge Frau mit roten Haaren und einer Frisur wie Mireille Mathieu. »Er ist mit einer Fläche von 370 Quadratkilometern der zweitgrößte in Norwegen und reicht, wie Sie hier sehen, mit seinem Gletscherarm, dem Engabreen, bis fast ins Wasser.« Staunen, als wäre der Gletscherarm der Fußabdruck Gottes. Dann wurden noch ein paar Fotos gemacht, und schon blies die Reiseleiterin zum Rückzug. »Wir fahren jetzt über den Gletschersee wieder an Land, wo ein Bus auf uns wartet.« Alle waren einverstanden. »Da gibt es dann nochmal die Gelegenheit, den Gletscher von einer Anhöhe aus zu betrachten.« Das Schnellboot wendete, gab Gas und fuhr über Engabreenvatnet, den Gletschersee, zurück zum Holandfjord.
Wenn man nicht gewusst hätte, dass die Fahrgäste des Kleinbusses auf der Reichsstraße 17 eigentlich nichts miteinander zu tun hatten, außer dass sie zufälligerweise und warum auch immer dieselbe Hurtigruten-Reise gebucht hatten, hätte man annehmen können, dass diese Frauen und Männer schon immer und auf ewig in diesem Bus sitzen würden. Die Truppe wirkte so harmonisch. Auch zeitlos. Wie auf dem lustigen Sommerausflug eines Seniorenheims. Oder auf einem Betriebsausflug der dort angestellten Schwestern und Pfleger. Eine Kaffeefahrt mit anschließendem Heizdecken – und Wärmflaschenverkauf hätte es natürlich auch sein können. Nur dass bisher niemand sang. Normalerweise sang bei derartigen Ausflügen immer jemand. Meistens alle. Spätestens auf der Rückfahrt, wenn so manche Pikkolöchen und Schnäpschen die Lachfalten strapazierten und sich derartig die Laune hob, dass sie zwangsläufig nach einem adäquaten Ausdruck lechzte. Da waren dann eben Hoch auf dem gelben Wagen oder Marmor, Stein und Eisen bricht die logische Folge. Davon war jetzt noch nichts zu hören. Zum Glück, dachte Plotek. Wusste aber, dass das durchaus noch kommen konnte. Zumal Ruedi Eschenbach jetzt eine Flasche Aquavit und kleine weiße Plastikbecherchen herumgehen ließ. Woraufhin sein Sohn Urs wieder die Augen verdrehte. Als Ruedi dann auch noch einen schwarzen Edding-Stift durch die Reihen schickte, schloss sein Sohn die Augen dann ganz. Was aber niemanden davon abhielt, sein Becherchen aufzufüllen. Auch nicht, den eigenen Namen auf selbiges zu kritzeln.
»Die müssen reichen!« Ruedi meinte die Becherchen. Während sein Sohn die Augen geschlossen hielt, als wäre er eingeschlafen. »Damit es keine Verwechslungen gibt!«, erklärte Ruedi und lachte dieses rachitische Schweizer Almlachen jenseits der Baumgrenze.
Plotek hatte so seine Probleme mit Namen auf Bechern. Ob da nun Mutti oder Chef oder was auch immer draufstand. Selbst der eigene Name vergällte ihm das Trinken. Für ihn hatten
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