Akte Mosel
leichter wird. Noch ein kurzer Anstieg, und der anstrengendste Teil ist geschafft. Der Sturm Wiebke hat hier vor ein paar Jahren den gesamten Wald im Umkreis von einem halben Kilometer platt gemacht. Die Sonne brennt ungehindert auf den Weg. Rechts ist die Stadt zu sehen. Dom, Liebfrauenkirche und Basilika behaupten seit vielen Jahrhunderten ihre Vorherrschaft. Darüber werden die Weinberge des Petrisberges vom Fernsehturm und den Gebäuden der Universität überragt.
Aggressives Hundegebell lenkt Doris von der Stadt ab. Oberhalb führt in zwei-, dreihundert Metern Entfernung ein Weg parallel an ihrem vorbei. Das Gekläff kommt näher. Ein Hund läuft den Hang herunter, direkt auf sie zu. Weit dahinter müht sich sein schreiendes Herrchen, dem Tier zu folgen. Doris hält an. Kurz darauf steht der Hund laut knurrend ein paar Meter vor ihr. Es ist ein Terrier, kein Pitbull, aber total gereizt.
»Aus! Aus!«, ruft Doris. Sie hat keine Angst vor Hunden und als langjährige Joggerin schon einige unvermeidliche Erfahrungen mit Vertretern dieser Rasse gemacht, aber der hier scheint besonders schlecht gelaunt zu sein. Der Hund nähert sich und zuckt dabei mit den Hinterbeinen, als wollte er zum Sprung ansetzen. Das Herrchen brüllt sich die Stimme aus dem Leib, ist aber noch nicht in Reichweite. Doris rührt sich nicht vom Fleck und bemüht sich, den Hund nicht zu sehr mit den Augen zu fixieren und dadurch womöglich noch mehr zu reizen. Sie nimmt Abwehrstellung ein. Wenn sie ihn nicht mit dem Fuß erwischt, kriegt er einen Handkantenschlag auf die Nase. Endlich ist der Mann bei seinem Hund angekommen und packt ihn am Halsband.
»Jetzt lassen Sie ihn aber besser an der Leine!« sagt Doris.
»Der muß endlich lernen, daß er die Jogger in Ruhe lassen soll«, flucht der Hundehalter.
»Suchen Sie sich dafür bitte einen anderen Sparringspartner!« Doris schüttelt den Kopf und läuft weiter. Hinter sich hört sie Schläge und Hundejaulen.
Der über die Stirn laufende Schweiß brennt Doris in den Augen. Sie fährt mit dem nassen Arm über das Gesicht, dann beugt sie sich vor und tupft die Stirn mit einem trockenen Zipfel des Hemdes ab. Ihr Gesicht glüht. Ein leichter Wind weht durch die Blätter. Instinktiv breitet sie leicht die Arme aus, als wolle sie den Wind umarmen. So etwas wie einen inneren Schweinehund, den es zu überwinden gibt, kennt Doris nicht. Laufen macht ihr Spaß, und wenn ihr eine Strecke, was selten passiert, zu lang wird, drosselt sie einfach das Tempo.
Hinter einer Biegung begegnen ihr zwei ältere Paare. Ein Mann tritt auf sie zu. »Entschuldigung, wo geht’s zum Kockelsberg? Sie brauchen nicht zu antworten, zeigen Sie nur in die Richtung!«
Sehe ich denn so mitgenommen aus, daß er annimmt, ich hätte keine Luft mehr zum Reden?
»Gleich links, da steht auch ein Wegweiser«, antwortet sie betont ruhig.
Der Wandersmann nickt dankend, ohne den besorgten Blick zu verlieren.
Noch bevor sie um die Kurve trabt, riecht sie, was sie erwartet. Am Parkplatz vorbei quälen sich die Fahrzeuge im Stop and Go in Richtung Stadt. Ihre Nase ist jedes Mal nach dem Laufen aufs höchste sensibilisiert. Sie läuft ein paar Schritte zurück, bis sie außer Sichtweite der Straße ist, macht Dehnübungen und führt Schläge aus. Im Karateverein, dem sie eine Zeit lang angehörte, ist sie nicht über den Braunen Gurt hinausgekommen. Dafür beherrscht sie ein paar solide Abwehrtechniken und einen hochwirksamen Angriffsschlag, der bei Männern augenblicklich zur Kampfunfähigkeit führt.
Auf der Rückfahrt legt sie sich ein Handtuch um den Nacken. Nach ein paar warmen Schlucken aus der im brütendheißen Auto liegenden Wasserflasche schießt ihr der Schweiß aus allen Poren. Mit heruntergedrehten Wagenfenstern, die mangels Fahrtgeschwindigkeit kaum Wind hereinlassen, quält sie sich Meter um Meter zurück zu ihrer Wohnung.
Nach dem Duschen fühlt sie sich müde und zufrieden, als habe sie einen langen Arbeitstag hinter sich. Auf der Couch kuschelt sich Minka an sie. Doris krault ihr den Kopf und den Hals, mehr duldet die Katze nicht. Schon nach wenigen Minuten sind beide eingeschlafen.
*
Walde fährt seinen Wagen durch das gußeiserne Tor in die gepflasterte Einfahrt von Joachims Haus, das jetzt, am späten Freitagnachmittag, seinen Schatten auf den Vorplatz wirft. Über das alte Granitpflaster geht er zum Gebäude, eine ehemalige Scholasterei aus dem 16. Jahrhundert. Joachim und Marie haben aus dem arg
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