Akte Mosel
Gebrauchsanweisung: Alle Sätze mit Ausdrücken wie „annehmen“, „glauben“, „schätzen“, „erwarten“ und ähnliche Begriffe stützen sich auf Vermutungen und persönliche Einschätzungen, Prognosen und Hörensagen … Stefan, mach’ ihm klar, daß er keine Wettervorhersage zu machen braucht.«
»Sei nicht so streng, Grabbe möchte keine Fehler mehr machen.«
»Und dann schreibt er solchen Humbug?«
»Er hat ziemlich viel rausgekriegt über Mutter, Tante und Großmutter, bei denen er wohnt, und warum er stottert.«
»Ist mir gar nicht aufgefallen, daß er stottert.«
»In Grabbes Bericht steht, wie er das hinkriegt: er redet einfach nur das Allernötigste oder überhaupt nicht.«
»Unter Vermutung, nehme ich an?«
Walde nickt.
»Gut, bisher hat der Mann keinerlei Anlaß zu der Vermutung gegeben, es könnte sich um den Gesuchten handeln.«
»Wir sind ja auch erst 24 Stunden an ihm dran«, entgegnet Walde.
Am steilen Mertesdorfer Berg muß Walde schon auf den ersten Metern aus dem Sattel. In der Dorfmitte verliert er das rote Mofa aus den Augen. Auf endlosen Geraden hinter dem Ortsausgang geht er in den Wiegegang. Es war keine gute Idee, das Rennrad für die Beschattung auszuwählen. Walde rechnete damit, daß der Bäcker im Stadtgebiet unterwegs wäre. Zwei Kilometer mit bis zu 16 Prozent Steigung, das sieht ja schon fast nach Absicht aus. Das Mofa hat weder einen Rückspiegel, noch hat Walde gesehen, daß der Bäcker sich während der Fahrt umgeschaut hat.
Auf der Abfahrt nach Fell duckt sich Walde dicht über’s Lenkrad. Das hohe Tempo läßt ihn bald dem Brechreiz erzeugenden Gestank der Müllkippe entkommen. Sein Rücken wird kalt, eine Zeitung im Trikot würde jetzt gute Dienste tun. In einer lang gezogenen Kurve wird er gefährlich weit auf die Gegenfahrbahn hinausgetragen. Im Tal hat er das Mofa wieder in Sichtweite. Es biegt in Richtung Moseltal ab. Gott sei Dank! Den in der entgegengesetzten Richtung drohenden Thommer Berg hätte Walde wohl nicht lebend überstanden. In Longuich biegt das Mofa vor der Moselbrücke auf den Radweg, den es bei Kenn wieder verläßt. Dort folgt ihm Walde durch ein Gewerbegebiet. Wenig später kommen sie an einer Freizeitanlage mit Rollschuh- und BMX-Bahn vorbei. Ein Lkw setzt rückwärts aus einem Firmenhof. Das Mofa weicht auf den Bürgersteig aus. Walde wartet und folgt wenige Augenblicke später. Hinter Kenn fährt der Bäcker auf der Bundesstraße nach Ruwer, wo er gleich darauf das Mofa neben seiner Wohnung abstellt. Gegen Mittag übernimmt Harry die Beschattung.
Zwei Stunden später sitzt Walde im sogenannten Sicherheitsraum des Kaufhauses vor einer Bildschirmwand und schaltet an der Steuerung der Kameras der Buchabteilung. Da, jetzt hat er Doris auf dem Bildschirm. Einen Augenblick später taucht ein anderes Bild auf.
»Mist«, ruft er. »Jetzt ist sie schon wieder weg.«
Der grauhaarige Mann, der ihn nach Vorzeigen seines Dienstausweises neben sich in dem kleinen Kellerraum hat Platz nehmen lassen, zeigt auf einen Knopf und erklärt: »Das sind sechs Kameras, die abwechselnd senden, Sie müssen dann nur hier zurückdrücken.«
Walde betätigt den richtigen Knopf und hat Doris vor sich, die ein Buch aus dem Regal nimmt. Als das Bild verschwindet, drückt er es wieder zurück. Sein Blick schweift kurz über die anderen Bildschirme, unter denen Zettel kleben, die die jeweiligen Abteilungen und Stockwerke bezeichnen. Der Mann neben ihm schiebt seinen Stuhl zurück und stößt den Rauch seiner Zigarette langsam aus. Die Luft wird augenblicklich stickig. Als Doris wieder auf dem Bildschirm auftaucht, steht neben ihr am Regal ein Mann, der nach Doris’ Beschreibung Räumer sein muß. Die beiden schauen sich nicht an. Walde kann nicht erkennen, ob sie miteinander sprechen.
»Kann man auch auf Ton schalten?« fragt Walde.
»Nein, das geht nicht, dürften wir auch gar nicht, das müßten Sie doch wissen, von wegen verbotenem Lauschangriff«, der Angesprochene bläst den Rauch in Waldes Richtung. Walde schließt kurz die Augen und wendet das Gesicht wieder zu den Monitoren. In der Herrenabteilung fällt ihm am Ständer mit den Lederjacken ein Mann auf. Walde nimmt zwei Bilder aus der Brusttasche und vergleicht. Es ist Schorsch, Räumers Mann für’s Grobe.
Waldes Handy klingelt. Während er sich meldet, versucht er, wieder die richtige Kameraeinstellung zu finden.
Es ist Grabbe: »Herr Hauptkommissar?«»Ja, was gibt’s?«
»Er ist auf
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