Akte Weiß: Das Geheimlabor, Tödliche Spritzen
eine alte graue Jacke über ihrem geblümten Kleid. Durch ein Loch im Socken lugte ein enorm geschwollener großer Zeh. Hinter ihr plärrte ein Fernseher, als sie Kate und David durch die halb offene Tür argwöhnisch betrachtete und sagte: „Charlie lebt nich’ mehr hier. Is’ tot. Die Polizei war schon da.”
„Wir würden gern sein Zimmer sehen”, erwiderte Kate. „Wir brauchen Informationen.”
„Wenn Sie nich’ von der Polizei sind, kann ich Sie nich’ reinlassen. Anweisung von oben. Hab schon Ärger genug mit den Bullen. Machen alle Leute im Haus nervös.” Sie wollte die Tür schließen, doch David hielt sie mit der Hand auf.
„Ich denke, Sie könnten eine neue Jacke gebrauchen, Mrs. Tubbs.” Er drückte ihr zwanzig Dollar in die feiste Hand.
Sie blickte auf das Geld. „Der Hotelbesitzer bringt mich um, wenn er es rauskriegt.”
„Wird er nicht.” David gab ihr noch einen Zwanziger.
„Der zahlt mir ’nen Hungerlohn dafür, dass ich diesen Abfallhaufen manage. Und dann muss ich auch noch den Beamten vom Ordnungsamt ausbezahlen.” Sie faltete die Banknoten und stopfte sie in die unergründlichen Tiefen ihres Ausschnitts. Auf Socken führte sie Kate und David die Treppe hinauf. Oben angekommen, schloss sie schwer atmend die Tür von Zimmer 203 auf. „Charlie hat hier ’n Monat gelebt”, japste sie. „War immer ruhig … nich’ so wie andere …”
Am Ende des Flurs öffnete sich eine Tür, und zwei blasse Kindergesichter kamen zum Vorschein. „Kommt Charlie zurück?” rief das kleine Mädchen.
„Ich hab euch schon gesagt, Charlie is’ für immer weg”, antwortete Mrs. Tubbs. „Warum seid ihr nich’ in der Schule?”
„Gabe ist krank”, erklärte das Mädchen. Wie zur Bestätigung wischte sich Klein-Gabe die verschnupfte Nase mit der Hand.
„Wo is’ eure Ma?”
Das Mädchen zuckte die Schultern. „Arbeiten.”
„Ja. Und lässt euch beide allein hier, damit ihr mir das ganze Haus abbrennt.”
Die Kinder schüttelten ernsthaft die Köpfe. „Sie hat uns die Streichhölzer weggenommen.”
Als sie den kleinen Raum betraten, huschte etwas Braunes über den Boden und verschwand in einer Ecke. Es roch nach kaltem Zigarettenrauch und altem Fett. Mrs. Tubbs schob die Gardine zurück, sodass durch das schmutzige Fenster etwas Sonnenlicht hereinfiel. Es war leicht zu sehen, warum sie das Ordnungsamt fürchtete. Neben dem Abfalleimer stand eine Rattenfalle, derzeit unbewohnt. Von der Decke hing eine einzelne nackte Glühbirne, und auf einer Kochplatte stand eine Pfanne mit einem dicken Rand aus altem Fett. Außer dem Fenster gab es keine Belüftung. Wenn hier jemand kochte, waberte die Luft von Fettschwaden.
Kate betrachtete die traurige Umgebung: ein zerwühltes Bett, ein Aschenbecher voller Kippen und ein Kaffeetisch voller einzelner Zettel. Sie nahm einen davon hoch und las ein kurzes Geburtstagsgedicht darauf. Es endete mit: Herzlichen Glückwunsch, Jocelyn. „Wer ist Jocelyn, Mrs. Tubbs?”
„Die Göre von 210. Die Mutter arbeitet immer, sagt sie jedenfalls. Die Kinder hätten mir fast das Haus angezündet. Hätte sie am liebsten rausgeschmissen. Aber die zahlen immer in bar.”
„Wie hoch ist die Miete?” fragte David.
„Vierhundert.”
„Sie machen Witze.”
„He, das is’ ’ne gute Wohnlage, nah an der Buslinie. Wasser und Elektrizität frei.” Eine Schabe krabbelte über den Boden. „Und wir gestatten Haustiere.”
„Wie war Charlie, Mrs. Tubbs?” erkundigte sich Kate.
„Was soll ich sagen? Er war ’n Einzelgänger. Machte nie Lärm, beklagte sich nie. War ’n guter Mieter.”
Die weitere Inspektion förderte nur ein paar zerknitterte Hemden, etwas Unterwäsche und einige Dosen Fertignahrung zutage. Kate ging zum Fenster und sah hinaus. Ein trostloser Anblick bot sich ihr: zerfallene Häuser, Müll und Betrunkene, die am Straßenrand lungerten. In diese Gegend verschlug es die, die nicht mehr tiefer fallen konnten im Leben, außer ins Grab.
„Kate?” David holte aus dem Nachttisch ein Rezept von Dr. Nemecheck und eine gerahmte Fotografie.
Kate wusste sofort, wer die junge lächelnde Frau im Badeanzug war. Sie hatte ausdrucksvolle braune Augen, aus denen die pure Lebenslust leuchtete. Kate nahm das Foto aus dem Rahmen. Die Ecken waren abgegriffen vom jahrelangen Anfassen. Auf der Rückseite stand: Bis zum Wiedersehen, Jenny. „Jenny”, sagte Kate leise und betrachtete das Bild. Charlie hatte so wenig besessen im Leben. Nur dieses Foto
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