Akte Weiß: Das Geheimlabor, Tödliche Spritzen
hatte er all die Jahre aufbewahrt. Verständlich, denn diese Frau strahlte so eine Lebensfreude aus, dass man ihren Tod nicht fassen konnte. „Mrs. Tubbs, was werden Sie mit seinen Sachen machen?”
„Verkaufen. Er schuldet mir noch ’ne Woche Miete. Aber er hatte nix Wertvolles, nur das, was Sie da haben.”
Kate schaute das Foto an. „Ja, sie ist hübsch, nicht wahr?”
„Ich meine nich’ das Bild. Den Rahmen. Er is’ aus Silber.” Jocelyn und ihr Bruder hingen wie kleine Affen am Gitterzaun und kletterten herunter, als Kate und David das Hotel verließen. Das Mädchen, etwa zehn, war spindeldürr und ihre nackten Füße sehr schmutzig. Der Junge, etwa sechs, war ebenso schmuddelig und hielt sich am Rockzipfel seiner Schwester fest.
„Er ist tot, stimmt’s”, meinte Jocelyn. Auf Kates Nicken hin sagte sie offenbar zu den Flecken auf ihrem Kleid: „Die Erwachsenen sind so dumm, sagen uns nie die Wahrheit.”
„Was haben sie dir über Charlie gesagt?” fragte Kate.
„Dass er einfach weggegangen ist. Aber er hat mir mein Geburtstagsgeschenk nicht gegeben.” Jocelyn starrte auf ihre Füße. „Ich bin zehn.”
„Und ich sieben”, fügte ihr Bruder automatisch hinzu.
„Ihr müsst gute Freunde von Charlie gewesen sein”, meinte David lächelnd.
Das Mädchen schaute auf, sah sein Lächeln, senkte scheu den Blick und zog mit dem bloßen Zeh schüchtern eine Linie auf den Gehweg. „Charlie hatte keine Freunde, genau wie ich. Ich habe nur Gabe hier, aber der ist bloß mein Bruder.”
Gabe rieb lächelnd seine schleimige Nase an ihrem Kleid.
„Hat außer euch jemand Charlie gut gekannt?” fragte David.
Jocelyn dachte nach. „Nun ja … vielleicht versuchen Sie’s mal bei Maloneys, das ist eine Bar, die Straße runter.”
„Was habt ihr Gören hier schon wieder verloren? Haut ab, bevor ich meine Lizenz verliere!” schimpfte der Barkeeper, als die beiden Kinder durch das Halbdunkel hüpften und zwei Barhocker erklommen.
„Die Leute wollen dich sprechen, Sam”, erklärte Jocelyn. „Kann ich eine Olive haben?” fragte Gabe.
Sam griff mürrisch in ein Glas und warf eine Hand voll auf den Tresen. „Es ist nicht meine Schuld”, sagte er an David gewandt. „Die Kinder kommen von der Straße herein …”
„Sie sind nicht vom Amt”, versicherte Jocelyn und steckte sich eine Olive in den Mund.
Offenbar hatte in dieser Gegend jeder Angst vor irgendeiner Behörde. „Wir brauchen Auskunft über einen Ihrer Gäste, Charlie Decker.”
Sam taxierte David offenkundig: teurer Anzug, Seidenkrawatte. „Bestellen Sie etwas?”
David verstand den Wink. Er bestellte Saft für die Kinder und Bier für Kate und sich. Nachdem er die überhöhte Rechnung bezahlt und noch ein üppiges Trinkgeld gegeben hatte, erinnerte er Sam: „Wir sprachen von Charlie Decker.”
„Oh ja, Charlie. Fast ’nen Monat lang kam er jeden Abend, trank ein, zwei Whisky. Er sprach nicht viel wegen seiner Kehle. Dann kam er nicht mehr. Es gab ein Gerücht, er soll jemand umgebracht haben.” Sam lachte: „Völlig unmöglich. Nicht Charlie, der saß immer nur da und schrieb Gedichte auf kleine Zettel. Er nahm das wirklich ernst. Als er einmal kein Geld hatte, gab er mir ein Gedicht und meinte, es könnte etwas wert sein.”
„Haben Sie es noch?” fragte Kate.
Er nahm einen Zettel von der Pinnwand und hielt ihn ihr hin. Es begann:
Und das habe ich ihnen gesagt:
Heilung kommt nicht aus dem Vergessen …
Nachdem Kate zu Ende gelesen hatte, fragte Sam: „Nun, was meinen Sie, ist es gut?”
„Es muss gut sein, wenn es von Charlie ist”, sagte Jocelyn. Sam zuckte die Schultern. „Das hat nichts zu bedeuten.”
„Wir stecken in einer Sackgasse”, erklärte David, als sie wieder in den Sonnenschein hinaustraten. Er steckte die Hände tief in die Taschen und blickte auf einen Betrunkenen am Wegesrand.
Kate dachte, wenn David doch nur lächeln oder durch einen Blick sagen würde, dass nicht alles aus ist zwischen uns. Aber er war wie aus Eis. Sie kamen an einer Gasse vorbei, in der sich zerbrochene Bierflaschen türmten. „Ich verstehe nicht, wie die Polizei die Akte schließen kann bei den vielen offenen Fragen.” Mit einem Blick zum Victory Hotel zurück fügte Kate hinzu: „Ist es nicht traurig, wenn jemand stirbt, ohne eine Spur zu hinterlassen, wer oder was er war?”
„Das ist bei uns auch nicht anders. Es sei denn, jemand hinterlässt ein Buch oder berühmte Bauwerke.”
„Oder Kinder.”
Nach
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