Akte Weiß: Das Geheimlabor, Tödliche Spritzen
Gracies unvergleichlichen Geschmack kannte, würde Kate vermutlich in irgendeinem entsetzlichen Fummel in bonbonrosa herunterkommen. Seltsam, sie waren erst seit einer Viertelstunde getrennt, und sie fehlte ihm schon. Solche Empfindungen waren ihm lästig, weil er sich dadurch schwach, hilflos und nur zu menschlich fühlte. Als er Schritte auf der Treppe hörte, drehte er sich hoffnungsvoll um. Doch es war nur Gracie. „Wo ist Kate?”
„Sie kommt gleich. Sie schaut sich Ihre Flugzeugmodelle an.” An Jinx gewandt meinte sie lachend: „Ich habe sie ihr gezeigt, um zu beweisen, dass David einmal ein Kind war.”
„War er nicht”, widersprach Jinx Ransom. „Er kam als Erwachsener auf die Welt, nur eben kleiner. Aber vielleicht entwickelt er sich ja rückwärts. Vielleicht lockert er mit der Zeit noch einmal richtig auf und wird kindisch.”
„Wie du, Mutter.” In diesem Moment schrillte das Telefon. „Lieber Himmel, es ist nach zehn!” David nahm den Hörer auf.
„Hallo?”
„Ich habe Neuigkeiten”, erklärte Pokie triumphierend. „Wir haben den Mann, Decker. Ich brauche Dr. Chesne hier, um ihn zu identifizieren. In einer halben Stunde, okay?”
David blickte auf, da Kate in der Tür stand, und machte ihr das Siegeszeichen mit dem Daumen nach oben. „Wir sind gleich da. Wo halten Sie ihn fest, Pokie? Im Präsidium?”
Es entstand eine Pause. „Nein. Im Leichenschauhaus.”
„Ich hoffe, Sie haben starke Mägen.” M.J., die quirlige Leichenbeschauerin, zog die Stahlschublade heraus und öffnete den Reißverschluss der Leichenumhüllung. Unter der grellen Beleuchtung wirkte das Gesicht des Mannes unecht, wächsern.
„Ein Jachtbesitzer hat ihn heute Abend aufgefischt, trieb, Gesicht nach unten, im Hafen”, erklärte Pokie und sah Kate erwartungsvoll an.
Kate betrachtete das aufgedunsene Gesicht des Mannes. Trotz der Entstellung waren diese besonderen Augen zu erkennen. Kate nickte. „Das ist er.”
„Bingo”, raunte Pokie.
M.J. fuhr mit behandschuhten Fingern über den Kopf des Toten. „Fühlt sich an, als hätte er hier eine Schädelfraktur.” Dann schlug sie das Leichentuch zurück. „Sieht aus, als hätte er längere Zeit im Wasser gelegen.”
Kate musste sich abwenden und legte den Kopf an Davids Schulter. David umarmte sie tröstend und sagte: „Um Himmels willen, M.J., decken Sie ihn wieder zu. Komm, Kate, wir gehen hinaus.”
M.J.s Büro wirkte mit den vielen Pflanzen und alten Filmpostern bewusst fröhlich. Pokie schenkte Kaffee ein, gab David und Kate eine Tasse und setzte sich ihnen seufzend gegenüber. „Tja, das war’s dann. Kein Prozess, kein Aufsehen. Gerechtigkeit durch den Tod des Killers.”
„Wie ist er gestorben, Leutnant?” flüsterte Kate.
„Ich weiß nicht. Vielleicht fiel er betrunken vom Pier und wurde von einem Boot erwischt. Das passiert manchmal.” Er sah MJ. an. „Was glauben Sie?”
„Ich kann noch gar nichts sagen.” M.J. schlang gerade ein Sandwich hinunter. „Wenn eine Leiche so lange im Wasser gelegen hat, verändert sich die Anatomie. Nach der Autopsie weiß ich mehr.”
„Wie lange war er im Wasser?” fragte David.
„Einen Tag, mehr oder weniger.”
„Einen Tag?” Er sah Pokie an. „Wer zum Teufel hat uns dann im Auto verfolgt?”
„Sie haben zu viel Fantasie, Davy”, meinte Pokie. „Wer es auch war, der Bursche da in der Schublade jedenfalls nicht”, fügte M.J. hinzu und biss herzhaft in einen Apfel. „Wann kennen Sie die genaue Todesursache?” wollte David wissen.
„Nach meinem Dinner hier mache ich die Autopsie und die notwendigen Untersuchungen.” M.J. drehte sich um und nahm einen Karton vom Regal. „Hier, seine persönlichen Sachen.” Unter den vielen in Plastik eingeschweißten Kleinigkeiten war auch ein Schlüssel mit Anhänger und dem Aufdruck „Victory Hotel”.
„Victory Hotel”, sagte Kate leise und nahm den Schlüsselbund hoch. „Hat er da gelebt?”
Pokie nickte. „Wir haben es überprüft, ein richtiges Loch, Ratten überall. Er war Samstagabend dort. Da hat man ihn auch das letzte Mal lebend gesehen.” Pokie lächelte sie an. „Es ist vorbei, Doc. Unser Mann ist tot. Sie können nach Hause gehen.”
„Ja”, erwiderte sie müde und streifte David mit einem Blick, doch der schaute in eine andere Richtung. „Ich kann nach Hause gehen.”
„Es ist zu einfach, David”, sagte Kate leise auf der Heimfahrt, starrte in die Dunkelheit und sah Charles Deckers Gesicht im Spiegel vor sich.
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