Akte Weiß: Das Geheimlabor, Tödliche Spritzen
einer Marionette, deren Fäden alle gleichzeitig gezogen werden.
Ein kurzes Flimmern, dann zeigte der Monitor wieder das Muster eines absterbenden Herzens. In einem verzweifelten Versuch spritzte Kate noch eine Droge und noch eine. Nichts half. Durch einen Tränenschleier sah sie den geraden Strich auf dem Monitor.
„Das war’s”, sagte Guy leise. Er gab das Zeichen, die Herzmassage einzustellen. Der Assistenzarzt zog sich mit schweißnassem Gesicht vom OP-Tisch zurück.
„Nein!” beharrte Kate und presste beide Handballen auf Ellens Brustkorb. „Es ist noch nicht vorbei!” Heftig und verzweifelt setzte sie die Herzmassage fort. „Es ist noch nicht vorbei!” Mit ihrem ganzen Gewicht presste sie rhythmisch gegen das untere Brustbein. Das Herz musste massiert, das Gehirn ernährt werden. Sie musste Ellen am Leben erhalten. Wieder und wieder pumpte sie, bis ihre Arme schwach wurden und zitterten. Lebe, Ellen! flehte sie stumm. Du musst leben!
„Kate.” Guy berührte ihren Arm.
„Wir geben noch nicht auf. Noch nicht …”
„Kate.” Guy zog sie sacht vom Tisch fort. „Es ist vorbei”, flüsterte er.
Jemand stellte den Warnton am Herzmonitor ab. Es folgte eine unheimliche Stille. Langsam drehte Kate sich um und sah, dass alle sie betrachteten. Sie blickte zum Monitor. Die Linie war flach.
Kate zuckte zusammen, als ein Helfer die Hülle um Ellen O’Briens Körper mit einem Reißverschluss zuzog. Der Klang hatte etwas grausam Endgültiges. Und es erschien ihr fast obszön, eine einst lebende, atmende Frau so zu verpacken. Als der Körper in die Leichenhalle gerollt wurde, wandte sie sich ab. Noch lange nachdem das Quietschen der Gummiräder auf dem Flur verklungen war, blieb sie allein im OP zurück. Den Tränen nahe blickte sie auf die blutverschmierte Gaze und die leeren Ampullen am Boden. Jeder Tod im OP hinterließ dasselbe Chaos. Bald würde alles zusammengekehrt und verbrannt werden, und es gab keine Spur mehr von der Tragödie, die sich hier abgespielt hatte.
Doch es blieben eine Leiche und viele Fragen. Es würde Fragen geben, von Ellens Eltern und vom Krankenhaus. Und Kate hatte keine Ahnung, wie sie die beantworten sollte.
Müde zog sie sich die Kappe vom Kopf und fühlte sich etwas erleichtert, als ihr das braune Haar offen auf die Schultern fiel. Sie musste jetzt allein sein, um nachzudenken und verstehen zu lernen. Sie wandte sich zum Gehen.
Guy stand auf der Türschwelle, und als sie sein Gesicht sah, wusste sie, dass etwas nicht stimmte.
Wortlos reichte er ihr Ellen O’Briens Patientenkarte. „Das EKG”, begann er. „Du hast mir gesagt, es sei normal gewesen.”
„Das war es.”
„Dann sieh es dir noch einmal an.”
Verwundert zog sie das EKG heraus und bemerkte als Erstes ihren Schriftzug, mit dem sie stets bestätigte, dass sie etwas kontrolliert hatte. Beim Betrachten des Streifens erstarrte sie geradezu. Das Muster der Herztätigkeit war eindeutig. Jeder Student im dritten Semester hätte die richtige Diagnose gestellt.
„Darum ist sie gestorben, Kate”, sagte Guy.
„Aber … das ist unmöglich!” brach es aus ihr hervor. „Ich kann keinen solchen Fehler begangen haben!”
Guy antwortete nicht, sondern wandte sich ab, was mehr sagte als Worte.
„Guy, du kennst mich. Du weißt, dass mir ein solcher Fehler nicht unterlaufen würde.”
„Aber es steht da schwarz auf weiß. Um Himmels willen, deine Unterschrift ist auf dem verdammten Ding!”
Sie starrten einander an, beide erschrocken über seine barsche Stimme.
„Tut mir Leid”, entschuldigte er sich. Aufgebracht wandte er sich ab und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. „Lieber Himmel, sie hatte einen Herzanfall. Einen Herzanfall! Und wir haben sie zur Operation zugelassen.” Er sah Kate entsetzt an. „Damit haben wir sie praktisch umgebracht.”
„Das ist ein offenkundiger Fall von ärztlichem Kunstfehler.”
Anwalt David Ransom schloss die Akte mit der Aufschrift „O’Brien, Ellen” und blickte seine Klienten über den breiten Schreibtisch hinweg an. Wenn er Patrick und Mary O’Brien mit nur einem Wort beschreiben müsste, wäre das: grau. Graue Haare, graue Gesichter, graue Kleidung. Patrick trug ein farbloses Tweedjackett, das schon vor langer Zeit seine Form verloren haben musste. Und das kleine schwarz-weiße Muster in Marys Kleid verschwamm ebenfalls zu einem undefinierbaren gräulichen Ton.
Patrick schüttelte immer noch den Kopf. „Sie war unser einziges Kind, Mr. Ransom. Sie war
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