Akte Weiß: Das Geheimlabor, Tödliche Spritzen
meilenweit gelaufen. Benommen suchte sie in ihrer Tasche nach den Autoschlüsseln und wunderte sich nicht einmal, dass die Tasche zu Boden glitt und ihren Inhalt verstreute. Gelähmt von ihrer Niedergeschlagenheit sah Kate nur zu, wie der Wind ihre Papiertaschentücher verwehte. Die absurde Vorstellung drängte sich ihr auf, dass sie nächtelang, vielleicht wochenlang hier verharren würde. Sie fragte sich, ob es jemand bemerken würde.
David Ransom hatte Kate bemerkt. Selbst während er seinen Klienten zum Abschied winkte, war er sich bewusst, dass Kate Chesne irgendwo hinter ihm auf dem Pier war. Es hatte ihn erstaunt, sie hier anzutreffen. Diese öffentliche Zurschaustellung von Reue war ein sehr kluger Schachzug und offenbar dazu bestimmt, die O’Briens zu beeindrucken. Als er sich jedoch umwandte und Kate allein mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf den Pier entlanggehen sah, war ihm plötzlich klar, wie viel Mut es sie gekostet hatte, herzukommen.
Dann erinnerte er sich allerdings, dass manche Ärzte alles taten, um einem Prozess zu entgehen, und verlor das Interesse.
Er war auf dem Weg zu seinem Wagen, als er etwas zu Boden fallen hörte, und entdeckte, dass Kate Chesne die Handtasche entglitten war. Eine kleine Ewigkeit stand die Ärztin nur da, die Autoschlüssel in der Hand, und wirkte wie ein verstörtes Kind. Dann beugte sie sich langsam und müde hinunter und begann, ihre Habseligkeiten einzusammeln.
Geradezu gegen seinen Willen zog es ihn zu ihr hin. Sie bemerkte sein Näherkommen nicht. Er ging neben ihr in die Hocke, sammelte ein paar verstreute Münzen auf und reichte sie ihr. Sie blickte ihn plötzlich an und erschrak.
„Sieht so aus, als brauchten Sie Hilfe”, sagte er. „Ich glaube, jetzt haben Sie alles.”
Sie erhoben sich gleichzeitig. Er hielt ihr immer noch das Wechselgeld hin, doch sie schien es nicht wahrzunehmen. Erst nachdem er ihr die Münzen in die Hand gedrückt hatte, sagte sie ein schwaches „Danke.”
Für einen Moment sahen sie sich in die Augen.
„Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu treffen”, begann er. „Warum sind Sie gekommen?”
„Es war …” Sie zuckte die Schultern, „… wohl ein Fehler.”
„Hat Ihr Anwalt es Ihnen geraten?”
Sie fragte verwirrt: „Warum sollte er?”
„Um den O’Briens Ihr Mitgefühl zu zeigen.”
Zornig fuhr sie ihn an: „Sie halten es für eine Art Strategie?”
„Das soll es schon gegeben haben.”
„Warum sind Sie denn hier, Mr. Ransom? Gehört das auch zu Ihrer Strategie? Wollen Sie Ihren Klienten Ihr Mitgefühl zeigen?”
„Ich habe Mitgefühl.”
„Und Sie denken, ich nicht?”
„Das habe ich nicht gesagt.”
„Aber unterstellt.”
„Nehmen Sie nicht alles, was ich sage, persönlich.”
„Das tue ich aber.”
„Das sollten Sie nicht. Ich tue nur meinen Job.”
„Und was ist Ihr Job? Henker?”
„Ich greife nicht Menschen an, sondern deren Fehler. Und selbst den besten Ärzten unterlaufen Fehler.”
„Das brauchen Sie mir nicht zu sagen!” Sie wandte sich ab und blickte auf die See hinaus, wo Ellen O’Briens Asche trieb. „Ich lebe im OP jeden Tag mit diesem Bewusstsein. Ich weiß, wenn ich die falsche Spritze aufziehe oder den falschen Hebel bediene, kostet es jemand das Leben. Oh ja, man wird damit fertig. Wir haben unsere bissigen Witze, unseren Galgenhumor. Es ist schrecklich, über was wir alles lachen und nur, um emotional zu überleben. Sie und Ihre ganze verdammte Zunft haben keine Vorstellung davon, wie es ist, wenn man einen Patienten verliert!”
„Aber ich weiß, wie es für die Hinterbliebenen ist. Jedes Mal wenn Sie einen Fehler machen, verursachen Sie Leid.”
„Vermutlich machen Sie nie Fehler.”
„Die macht wohl jeder. Der Unterschied ist, dass Sie Ihre begraben.”
„Das werden Sie mich nie vergessen lassen, was?”
Sie wandte sich ihm zu. Das Licht des Sonnenuntergangs ließ ihre Haare feurig leuchten. David fragte sich plötzlich, wie es wohl wäre, seine Finger durch diesen Wust braunroter Haare gleiten zu lassen und Kate Chesne zu küssen? Der Gedanke war plötzlich da, und er wurde ihn nicht mehr los. Sicher war es in dieser Situation das Letzte, woran er denken sollte, aber sie standen so gefährlich nah beieinander, dass er entweder zurückweichen oder Kate Chesne küssen musste.
Mit Mühe gelang es ihm, beides zu vermeiden. „Wie gesagt, Dr. Chesne, ich tue nur meine Pflicht.”
Sie schüttelte so wütend den Kopf, dass ihre Haare im Wind
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