Akte Weiß: Das Geheimlabor, Tödliche Spritzen
konnte sie nicht wieder aufheben. Der Schmerz im Knöchel war fast unerträglich, als sie die dritte Etage erreichte. Würde auch diese Tür verschlossen sein? Ihre Fantasie eilte voraus zum Erdgeschoss. Was lag dort? Ein Parkplatz? Eine Gasse? Würde man dort morgen ihre Leiche finden?
Aus schierer Panik riss Kate mit übermenschlicher Kraft an der Tür. Sie war unverschlossen. Kate taumelte hinaus und befand sich auf einem Parkdeck. Sie hatte keine Zeit, lange nachzudenken, sondern ging blindlings in Deckung. Als die Tür zum Treppenhaus wieder aufflog, duckte sie sich hinter einen Lieferwagen.
Dort hockte sie hinter den Vorderrädern und lauschte auf Schritte. Bis auf das Rauschen ihres Blutes in den Ohren hörte sie jedoch nichts. Sekunden verstrichen, dann Minuten. Wo war er?
Hatte er die Jagd aufgegeben? Sie presste sich so dicht an den Wagen, dass der Stahl in ihre Schenkel schnitt. Doch sie spürte keinen Schmerz, so sehr waren ihre Sinne aufs Überleben gerichtet.
Ein Kieselstein kullerte über den Boden und verursachte Lärm wie ein Pistolenschuss. Kate versuchte vergeblich, die Richtung des Geräusches auszumachen. Geh weg! flehte sie im Stillen, da sie spürte, dass er näher kam. Sie musste wissen, wo er war.
Vorsichtig duckte sie sich und blickte unter dem Lieferwagen hindurch. Blankes Entsetzen erfasste sie, als sie ihn auf der anderen Seite vom Heck des Wagens auf sich zugehen sah. Kate sprang auf und rannte los. Die geparkten Autos verschwammen am Rande ihres Blickfeldes zu einer undeutlichen Masse. Sie hastete auf die Abfahrtsrampe zu. Ihre Beine, noch steif vom Hocken, bewegten sich nicht schnell genug. Sie hörte den Mann hinter sich. Die Rampe wand sich endlos hinab, und in jeder Kurve lief sie Gefahr auszugleiten, der Mann kam näher. Kate atmete so heftig, dass ihre Kehle zu schmerzen begann.
In einem verzweifelten Spurt bog sie um die letzte Ecke. Zu spät erkannte sie die Scheinwerfer des Wagens, der die Rampe hinauffuhr. Kate sah noch flüchtig zwei Gesichter hinter der Windschutzscheibe, die die Münder aufrissen, dann krachte sie auf den Kühler. Es gab einen grellen Blitz, als explodierten Sterne in ihren Augen. Danach schwand das Licht, und sie sah nichts mehr, nicht einmal Dunkelheit.
5. KAPITEL
M angoblüte”, erklärte Sergeant Brophy und schnauzte sich in sein feuchtes Taschentuch.
„Das ist die schlimmste Jahreszeit für meine Allergie.” Er atmete vorsichtig Luft ein, als suchte er nach einem neuen, bisher unentdeckten Hindernis in seinen Nasengängen. Die grauenvolle Szenerie ringsum schien ihn völlig kalt zu lassen, als seien Leichen, blutbespritzte Wände und eine Armee kriminaltechnischer Mitarbeiter etwas Alltägliches. Wenn Sergeant Brophy einen seiner Niesanfälle bekam, vergaß er alles bis auf den traurigen Zustand seiner Nasenschleimhäute.
Leutnant Francis Ah Ching – genannt Pokie – hatte sich an das Schniefen seines Assistenten gewöhnt. Manchmal war dessen Allergie sogar nützlich, denn er wusste immer, in welchem Raum sich Brophy gerade aufhielt, und brauchte nur dem Geräusch zu folgen.
Sergeant Brophy verschwand samt im Taschentuch steckender Triefnase soeben im Schlafzimmer der Toten. Pokie blickte wieder auf seinen Notizblock, auf dem er die Fakten festhielt. Er schrieb rasch, in einer besonderen Kurzschrift, die er sich in seiner sechsundzwanzigjährigen Dienstzeit als Polizist – davon siebzehn im Morddezernat – angeeignet hatte. Acht Seiten waren mit Skizzen der verschiedenen Räume gefüllt, vier allein mit denen vom Wohnraum. Seine Skizzen waren grob, die Fakten stimmten jedoch genau. Leiche hier, umgeworfene Möbel dort, Blut überall.
Die Leichenbeschauerin, eine jungenhaft wirkende, sommersprossige Frau, die jeder nur M.J. nannte, ging herum, bevor sie die Leiche untersuchte. Wie üblich trug sie Jeans und Turnschuhe – ein lässiger Aufzug für eine Ärztin, aber in ihrem besonderen Fall beklagten sich die Patienten nicht. Während sie durch den Raum schritt, diktierte sie in einen Kassettenrekorder:
„Arterielles Blut an drei Wänden in 1,30 bis 1,60 in Höhe … große Blutlache an der Ostseite des Wohnzimmers, wo Leiche liegt … Opfer ist blond, weiblich, zwischen dreißig und vierzig, in Bauchlage gefunden, rechter Arm gebeugt unter dem Kopf, linker Arm ausgestreckt … Keine Fleischwunden an Händen oder Armen bemerkt.” M.J. ging in die Hocke. „Auffallende Leichenflecken. Hm.” Stirnrunzelnd berührte sie den nackten
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