Akte X
war stundenlang ziellos durch die Gegend gefahren. Von einem fernen Kliff aus hatte sie das lodernde DyMar-Feuer beobachtet und das Schlimmste gefürchtet. Sie hatte das Ausmaß der Verschwörung noch
immer nicht begriffen, als sie wieder nach Hause gerast war, voller Hoffnung, David dort zu finden, voller Hoffnung, daß er ihr zumindest eine Nachricht hinterlassen hatte.
Statt dessen hatte sie feststellen müssen, daß ihr Haus durchwühlt worden war. Jemand hatte nach etwas gesucht, hatte sie gesucht. Patrice hatte in aller Eile das Notwendigste zusammengepackt und war aus Tigard und dem Stadtgebiet von Portland in die tiefe Wildnis geflohen, voller Angst, aber auch mit kühler Berechnung.
Sie hatte mehrmals auf nächtlichen Parkplätzen die Nummernschilder gewechselt, bis kurz vor Mitternacht gewartet und dann in Downtown Eugene, Oregon, den Tageshöchstbetrag von einem Geldautomaten abgehoben; sie war quer durch die Stadt zu einem anderen Automaten gefahren und hatte nach Mitternacht, als ein neues Datum galt, erneut den Höchstbetrag abgehoben. Dann war sie weiter zur Küste geflohen, zu Darms altem, verlassenen Blockhaus, wo sie und Jody sich verstecken konnten, bis sie sich wieder sicher fühlten, ganz gleich, wie lange dies dauern mochte.
Sie hatte viele Jahre lang als selbständige Architektin gearbeitet, ihre Entwürfe zu Hause gemacht, vor allem in den letzten Monaten, als sich Jodys Gesundheitszustand durch den Krebs und — schlimmer die konventionellen Chemo- und Strahlentherapien immer mehr verschlechterte.
Patrice hatte diese kleine Zuflucht vor mehreren Jahren aus Gefälligkeit für ihren Schwager entworfen. Darin hatte sich die nötige Ausrüstung gemietet und die elektrischen Leitungen selbst verlegt, die Zufahrt begradigt und ein paar Bäume gefällt, aber er war nie groß dazu gekommen, es als Urlaubsdomizil zu nutzen. Er war viel zu sehr mit seinen Forschungen und seiner Achttagewoche im Labor beschäftigt gewesen. Zweifellos ein Opfer von Davids Arbeitswut.
Niemand sonst wußte von diesem Ort, niemand würde sie hier suchen, in einem leerstehenden Ferienhaus, das sie vor Jahren für einen Schwager gebaut hatte, der vor einem halben Jahr verschwunden war. Es war das perfekte Versteck für sie und Jody. Hier konnten sie zur Ruhe kommen und ihre nächsten Schritte planen.
Aber dann war der Hund verschwunden. Vader war Jodys letzter Trost gewesen, sein Anker in all dem Chaos. Der schwarze Labrador hatte es genossen, aus der Vorstadt herauszukommen und durch den Wald zu laufen. Er war jahrelang ein Stadthund gewesen, immer angeleint, und jetzt konnte er frei die Wälder Oregons durchstreifen.
Es hatte sie nicht überrascht, daß Vader ausgerissen war, aber sie war überzeugt gewesen, daß er zurückkommen würde. Es wäre besser gewesen, ihn anzuleinen — aber das hatte sie nicht übers Herz gebracht. Es genügte, daß sie und ihr Sohn hier gefangen waren. Warum auch noch der Hund? Patrice hatte ihm allerdings die Hundemarke abgenommen, aus Furcht, sich sonst zu verraten. Wenn Vader gefangen würde oder verletzt werden sollte, dann konnte man keinen Zusammenhang zwischen ihnen herstellen - und die Spur nicht zu ihnen zurückverfolgen.
Jody hatte es hart getroffen, auch wenn er die Hoffnung noch nicht aufgab. Sein größter Wunsch war, daß sein Hund zu ihm zurückkehrte. Abgesehen von seiner Niedergeschlagenheit wirkte er jetzt von Tag zu Tag gesünder; sein Haar war nach der Chemo- und Strahlentherapie größtenteils wieder nachgewachsen. Und er war so kräftig wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Er sah wieder wie ein normaler Junge aus.
Aber er vermißte Vader, und sein Kummer war wie eine offene Wunde. Nach jedem Teil des Erde-Mond-Puzzles spähte er durch die schmuddeligen Gardinen des Hauptfensters und suchte den Wald ab.
»Mom, er ist wieder da!« schrie Jody und sprang von seinem Stuhl auf.
Für einen Moment reagierte Patrice mit Panik, dachte an die Verfolger, fragte sich, wer sie wohl aufgespürt hatte und wie sie entkommen konnten. Aber dann drang durch die offene Tür das Gebell des Hundes. Sie stand vom Puzzletisch auf und starrte verblüfft den schwarzen Labrador an, der zwischen den Bäumen hervorsprang.
Jody stürmte durch die Tür nach draußen. Er rannte dem schwarzen Hund so schnell entgegen, daß sie fürchtete, ihr Sohn würde im nächsten Moment auf der Kiesauffahrt lang hinschlagen oder über einen Baumstumpf oder einen herumliegenden Ast im Garten
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