Akte X
konnte sich noch genau erinnern, wie Dana plötzlich das Gewehr sinken ließ und sich ihr kindliches Gesicht vor Entsetzen verzerrte. Ihr war klargeworden, was sie getan hatte, daß sie nichts mehr tun konnte, um es ungeschehen zu machen. Da begann sie zu weinen und ließ sich neben der sterbenden Schlange auf die Knie fallen.
Margaret blinzelte. »Sie sagte unter Tränen, daß sie... der Schlange etwas angetan habe, wozu sie kein Recht hatte. Und obwohl sie sich eigentlich vor Schlangen fürchtete, hielt sie das Tier in den Händen, als könne sie dessen Leben durch reine Willenskraft bewahren...«
Margaret seufzte.
Mulder nickte langsam. Ja, er konnte es sich vorstellen, das zehnjährige Mädchen, das zum ersten Mal den Tod hautnah miterlebt hatte. Wie sehr dieses Erlebnis sie beeinflußt haben mußte... Das Mädchen war schließlich erwachsen geworden und hatte den Beruf der Ärztin gewählt.
Er strich sanft mit den Fingern über Margarets Handrücken. »Mrs. Scully«, sagte er beschwichtigend, »Wir dürfen noch nicht aufgeben.«
Sie schien ihn nicht zu hören.
»An diesem Tag in den Wäldern... hatte ich Mitleid mit meiner Tochter.« Ihr Augenlider flatterten. Sie blickte Mulder hilfesuchend an. »Aber in diesem Moment... ich wußte, was meine Tochter empfunden hat.«
Ein Anflug von Resignation huschte über ihr Gesicht.
Plötzlich klatschte irgend etwas mit einem dumpfen Aufprall auf die Theke. Mulder und Margaret zuckten zusammen. Das Geräusch wischte die Erinnerungen fort und riß sie in die Gegenwart zurück, auf die abgewetzten Sessel in einem schäbigen Raum, in dem es nach Granitstaub und Maschinenöl roch.
Hinter der Theke stand ein junger Mann und nickte ihnen zu. Seine Hände waren voller Schwielen, die Hände eines Mannes, der körperliche Arbeit gewohnt war, rissig und kräftig.
Mulder stand auf, nahm Margarets Hand und half ihr hoch. Sie traten an die Theke heran. Der junge Mann deutete wortlos auf einen großen rechteckigen Gegenstand, einen Stein, der mit einer Lage Wachspapier bedeckt war. Er zog das Papier schwungvoll beiseite.
Margaret Scully und Mulder starrten die Steintafel schweigend an, wie gebannt durch die unwiderrufliche Bedeutung, die sie vermittelte.
Auf die Vorderseite waren in kunstvoller Schrift ein paar schlichte Worte eingemeißelt: DANA KATHERINE SCULLY
1964 - 1994 Geliebte Tochter und Freundin
Mulder betrachtete die Inschrift, bis er es nicht länger ertrug. Er mußte den Blick abwenden. Ganz unten auf der Tafel war noch eine weitere Zeile eingemeißelt:
Der Geist ist die Wahrheit, l Johannes, 5.06
Margaret Scully nickte und akzeptierte damit sehr viel mehr als nur die Gestaltung des Grabsterns. Sie hatte ein Kapitel abgeschlossen.
Nein, dachte Mulder. Es ist noch nicht abgeschlossen. Für mich ist dieses Kapitel noch nicht beendet.
2 Fox Mulders Apartment Washington D.C.
Mulder lag schweißgebadet auf seinem Sofa. Mattes bläuliches Licht fiel von dem eingeschalteten Fernseher auf sein Gesicht.
Alle paar Minuten griff er zur Fernbedienung und wechselte das Programm. Mulders Augen waren glasig. Durch das Fenster hinter seinem Schreibtisch fiel Tageslicht in den stickigen Raum. Auf dem Tisch lag das Bild, das Scullys Gesicht zeigte, ihre angstvoll aufgerissenen Augen, die aus dem Kofferraum eines Wagens herausstarrten. Der Mann, der ihn gefahren hatte, war mittlerweile tot. Auf dem Tisch stand auch ein eingeschalteter Computer. Auf dem leuchtenden Monitor war eine mitten im Spiel unterbrochene Partie Solitär zu sehen. Neben dem Monitor stand eine halb geleerte Flasche Wodka.
Mulder sah sich bereits zum tausendsten Mal das Videoband von Scullys Entführung an, spulte es unablässig vor und zurück, obwohl sich die Bilder so tief in sein Gehirn eingebrannt hatten, daß er sie auch mit geschlossenen Augen noch vor sich sah.
Er sehnte sich nach Schlaf, aber auch die halbe Flasche Wodka, die ihm im Magen brannte, und der beginnende Kater konnten die fast zwanghafte Besessenheit, mit der er immer und immer wieder von vorne anfing, nicht vertreiben. Der Gedanke, versagt zu haben, kehrte immer wieder und quälte ihn.
Das Telefon klingelte.
Mulder wartete, bis der Anrufbeantworter ansprang, bevor er die Hand ausstreckte und den Telefonhörer abnahm. Er sah die rote Digitalanzeige des Weckers auf seinem Schreibtisch. 3:14 Uhr.
»Ja?« fragte er.
3 Northeast Georgetown Medical Center Washington D.C. Intensivstation
Mulder eilte durch den
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