Akte X
Händen. Zwischen seinen Händen.
Und das Schlimmste von all dem: er konnte noch immer den glühenden Zorn fühlen, der in seinem Körper gewütet hatte. Der Zorn, der all sein Denken und seinen Verstand überwältigt hatte, ihn aus dem Krankenhausbett getrieben hatte. Dieser grimmige Zorn hatte irgendwo zwischen den Stichen seinen Ursprung; gleich einer unglaublichen Hitze hatte er sich durch sein Fleisch gebrannt. Er hatte das Gefühl gehabt, seine Adern und Venen hätten Feuer gefangen, seine gesamten Innereien würden unter dem Einfluß dieser heißen Flammen zu kochen beginnen.
Dann war der Zorn in seinen Kopf eingedrungen, und alles war der Weißglut zum Opfer gefallen. Er hatte die Krankenschwester gesehen, wie sie sich über ihn beugte, und es war, als sähe er sie durch die Augen eines Fremden. Der Zorn hatte die Kontrolle übernommen, und er hatte ihren Kopf mit seinen Händen gepackt.
Danach war alles furchtbar schnell gegangen. Das Stechen, der Zorn, der ihn dazu trieb, alles in seiner Reichweite zu zerstören. Und dann hatte sich ein einziger Gedanke in all der Qual bemerkbar gemacht: Flucht.
Sein Kopf zuckte vor und zurück, als neue Schauer von seinem Körper Besitz ergriffen. Stolpernd kam er auf die Füße und schüttelte das Glas aus dem zerfetzten Stoff des Kittels. Flucht. Irgendwo in den kümmerlichen Überresten seines Geistes wusste er, dass das nicht sein eigener Gedanke war. Auch er entstammte dem schrecklichen Stechen. Irgendwo in seiner Haut.
Ihm blieb keine Wahl als sich zu fügen. Wann immer er Widerstand leistete, wurde das Stechen noch schlimmer. Also taumelte er voran, und unter seinen nackten Füßen knirschte das Glas. Er wusste nicht recht, wo er war, aber er wusste, dass er nicht weit von dem Sirenengeheul und den Rufen entfernt war. Er durfte nicht zulassen, dass sie ihn fanden. Allzu gut wusste er, zu was das Stechen und der Zorn ihn treiben würden, wenn sie ihn erwischen sollten. Noch mehr Schädel zwischen seinen Händen...
Plötzlich zerrte ein Kreischen an seinen Trommelfellen. Aus glasigen Augen blickte er auf. Er sah die gelbe Motorhaube eines Taxis um die vor ihm liegende Kurve schleudern, sah den erschrockenen Fahrer, der mit aller Macht die Hand auf die Hupe preßte. Nur eine kurze, eingefrorene Sekunde, dann berührte der vordere Kotflügel Stantons linke Hüfte.
Endlich kam der schleudernde Wagen zum Stehen. Stanton blickte an sich herab und sah, dass die verbeulte Motorhaube sich halb um sein Bein gewickelt hatte. Er trat einen Schritt zurück, und sein ganzer Körper begann heftig zu zittern. Das Stechen erfaßte seine Hüften, seine Brust, sein Gesicht. Nein, nein, nein!
Die Fahrertür öffnete sich, und ein großer, dunkelhäutiger Mann stürzte aus dem Wagen. Er sah Stanton und brüllte irgend etwas. Dann erst bemerkte er sein ruiniertes Taxi. Seine Augen weiteten sich ungläubig. »Mister, sind Sie okay?«
Stantons Haut fing Feuer, und sein Geist fiel der weißen Glut zum Opfer. Er versuchte, dagegen anzukämpfen, versuchte die Befehle aufzuhalten, ehe sie seine Muskeln erreichen konnten. Er versuchte, daran zu denken, wie er früher war - nett, freundlich und schwach. Schließlich bemühte er sich, sich auf das Bild seiner Tochter zu konzentrieren, geliebte Emily, und auf sein Leben vor der Transplantation.
Doch die Gedanken verschwanden, als die Maden sich ihren Weg über seine Haut bahnten. Mit einem Ausdruck des Wahnsinns in den verzerrten Zügen sprang er vor. Der Taxifahrer sah das Blut an seinen Händen, und plötzlich erkannte er die Gefahr. Er drehte sich um und rannte schreiend die dunkle Straße hinunter.
Stanton stolperte hinter ihm her, und nur ein Wort hallte wieder und wieder durch seinen Geist.
Lauf! Lauf! Lauf!
Kapitel 6
Als Mulder die steinernen Stufen hinaufstieg, die in das J.P. Friedler-Gebäude für Medizin auf dem Campus der medizinischen Fakultät Columbia führten, hatte sich der Himmel bereits dunkelgrau verfärbt. Er musste nicht erst zur Uhr sehen, um zu wissen, dass es fünf Uhr morgens war; seine Muskeln verbreiteten das sonderbare, steife Gefühl, das deutlich verkündete, dass er beinahe vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen hatte. Ihm war bewusst, dass er und Scully nicht mehr lange so weitermachen konnten, aber solange Perry Stanton nicht im Gefängnis war, zwangen die geheimnisvollen Begleitumstände dieses Falles sie zu einem erbitterten Wettlauf gegen die Zeit.
Erst vor wenigen Minuten hatte Scully ihm die
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