Akte X
winkte ab. »Viren können auf verschiedene Menschen ganz unterschiedliche Auswirkungen haben, ganz besonders ein Virus wie dieses. Lethargica greift Bereiche des Gehirns und der Meninx, der Hirnhaut, an. Es ist unmöglich vorauszusagen, wie eine infizierte Person auf die Krankheit reagiert. Während der Epidemie, 1922, sind vierzig Prozent der Infizierten gestorben. Dieses Mal ist der Prozentsatz weit höher, aber wenigstens beschränkt sich die Krankheit auf die wenigen Menschen, die engen Kontakt mit ihrem Träger hatten. Das bedeutet, dass der Übertragungsweg des Virus' sich verändert hat.«
Mulder schob die Füße aus dem Bett und streckte die Beine aus. Mit jeder Sekunde wurde er lebendiger. Er konnte nur hoffen, dass Scully ebenso wach war wie er - denn für ihn war dieser Fall noch lange nicht gelöst. »Sie meinen also, er wird durch Blut übertragen, so wie HIV?«
Scully nickte. »Ganz richtig. Es wird nur durch direkten Blutkontakt übertragen. Das Virus, das 1922 aktiv war, wurde auch durch Moskitos weitergegeben, aber so etwas kommt nur extrem selten vor.«
Mulder streckte den Arm aus und berührte Scullys Hand, die noch immer in einem Latexhandschuh steckte. »Scully, beide Medizinstudenten haben Latexhandschuhe getragen. Wie erklären Sie sich dann einen direkten Blutkontakt? Durch einen Moskitoschwarm in der Notaufnahme?«
»Latexhandschuhe bieten keinen hundertprozentigen Schutz. Und Hautentnahme ist alles andere als eine saubere Prozedur.«
Dennoch hielt Mulder es für bemerkenswert, dass beide Studenten so schwer - und so schnell erkrankt waren, während das Team des plastischen Chirurgen, das später mit der entnommenen Haut gearbeitet hatte, gesund geblieben war. »Da stimmt etwas nicht, Scully. Selbst wenn das Virus das Verbindungsglied zwischen den Medizinstudenten und unserem John Doe sein sollte, gibt es noch keinen Beweis für eine Verknüpfung mit Perry Stanton. Wenn Dr. Bernstein krank wäre, vielleicht, aber er ist vollkommen gesund. Das einzige, was John Doe und Perry Stanton verbindet, ist die kreisförmige Hautreizung.«
Scully erhob sich schwerfällig von dem Bett und nahm die Kontaktabzüge aus Mulders Hand. »Wir werden erst sicher sein können, wenn wir Stanton unter Verschluß haben. Ich habe Barrett über die Vorsichtsmaßnahmen informiert: Latexhandschuhe, Gesichtsmasken, möglichst wenig direkter Kontakt, und sie hat mir versichert, dass sie ihn innerhalb der nächsten Stunde schnappen werden. Bis dahin wird der Experte vom Seuchenkontrollzentrum hier sein und die Diagnose Lethargica bestätigen, und wir können einen Schlußstrich unter diese Tragödie ziehen.«
Mulder strich sich mit den Fingern durch das Haar, doch er sprach nicht aus, was er dachte: dass diese Tragödie von ihrem Schlußakt noch weit entfernt war. Desgleichen bezweifelte er, dass es Barrett allzu leicht fallen würde, einen Mann festzunehmen, der einen Infusionsständer einen halben Meter tief in die Wand eines Krankenhauses getrieben hatte. Anstelle einer entsprechenden Bemerkung legte er die Finger an seinen Unterkiefer und prüfte die Beweglichkeit seines verletzten Kinns, ehe er sich von dem Bett erhob. »Ich glaube nicht, dass das Seuchenkontrollzentrum uns helfen kann, Licht in diesen Fall zu bringen, Scully. Sie können der Spur des Lethargicavirus' folgen, wohin sie auch führen mag; in der Zwischenzeit werde ich versuchen, mehr über unseren John Doe herauszufinden.«
Scully zog die Brauen hoch. »Mulder, wir haben seine Akte nun schon ein halbes Dutzend Mal überprüft. Die Assistenzärzte wussten nicht, was ihm gefehlt hat - und solange wir keine Leiche haben und keine Autopsie durchführen können, können wir auch nichts Genaueres über seinen Tod herausfinden.«
Mulder hatte sich bereits Richtung Tür in Bewegung gesetzt. »Mich interessiert nicht, wie er gestorben ist, Scully. Ich will wissen, wie er überhaupt zu einer Krankenakte werden konnte.« Mulder traf in der Notaufnahme ein, als gerade ein Notärzteteam mit einem Patienten durch die Tür hereinstürmte. Er zählte mindestens sechs Personen rund um die Rolltrage: den stämmigen Chefarzt, einen Chirurgen in einem grünen OP-Kittel, zwei Schwestern und, am hinteren Ende der Trage, zwei leicht untersetzte Männer in dunkelblauen Sanitäteruniformen. Der Kleinere der beiden hielt eine Blutkonserve über seinen Kopf und beeilte sich, mit dem Infusionsschlauch Schritt zu halten, der in der rechten Hüfte des Patienten steckte.
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