Akte X
vorderen Fahrzeug. Wir hatten bereits ein Unfallopfer im Wagen, eine Frau mit ziemlich tiefen Schnittwunden im Brustbereich, aber wir haben uns trotzdem entschieden, das Risiko einzugehen und den Mann noch aufzusammeln. Es waren zwar noch andere Krankenwagen vor Ort, aber der Unfall war wirklich schlimm. Viel mehr Opfer als Fahrzeuge.«
Mulder sah zu, wie Canton die Hüfte einer vorbeieilenden Schwester umfaßte. Die junge Frau wand sich lachend aus seinem Griff, und Mulder fiel auf, dass Luke Canton ein sehr beliebter Mann war. »Ist er während der Fahrt zum Krankenhaus stabil geblieben?«
»Er hat auf nichts reagiert«, entgegnete Canton. »Aber er war bestimmt stabil. Wir haben sogar bezweifelt, dass er überhaupt etwas mit dem Unfall zu tun gehabt hat; es gab nirgends Verletzungen, wie man sie nach so einem Unfall erwarten sollte, keine Quetschungen, keine Schnittwunden, nichts . . .«
»Nur diese Hautreizung«, meldete sich ROSS zu Wort, als sie den Vorhang vor der Tür zum Umkleideraum erreichten. »So ein kleines rundes Ding in seinem Nacken. Sah aber nicht sonderlich wichtig aus - ich weiß gar nicht mehr, ob wir den Assistenzärzten überhaupt davon erzählt haben, als wir ihn abgeliefert haben.«
Canton warf seinem Partner einen Blick zu, woraufhin dieser sogleich zu Boden sah. Dann wandte sich Canton wieder Mulder zu. »Es war eine verrückte Nacht. Wir mussten sofort zum Unfallort zurückkehren, um uns um die Leichtverwundeten zu kümmern. Ich bin sicher, die Jungs haben den Kratzer auch allein gefunden. Außerdem glaube ich nicht, dass das irgend etwas mit dem zu tun hat, was den Burschen umgebracht hat.«
Sie schoben sich in den kleinen Umkleideraum hinein. Eine Seite des Raumes beherbergte eine Reihe metallener Spinde, vor denen drei Holzbänke parallel zueinander aufgestellt waren. Außerdem gab es einen Schrank mit Kleiderbügeln und eine Tür, die zum Duschraum führte. Während die Männer in frische Uniformen schlüpften, dachte Mulder darüber nach, was Canton ihm erzählt hatte. Seine Gedanken kreisten immer wieder um den Unfallort, wo John Doe gefunden worden war. Wenn er nicht von einem der Fahrzeuge erfaßt worden war, warum hatte er dann bewusstlos auf der Straße gelegen, nur sechs Meter von der Unfallstelle entfernt?
Als die Sanitäter fertig waren, wandte sich Mulder noch einmal an Luke Canton. »Ich habe bereits mit dem Einsatzleiter gesprochen, und wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihnen gern eine Stunde Ihrer Zeit stehlen.«
Canton zog die Augenbrauen hoch, wechselte einen kurzen Blick mit seinem Partner und zuckte die Schultern. »Sie haben die Befugnis, ich habe die Stunde.«
Mulder grinste. Luke Cantons Haltung gefiel ihm.
Kapitel 8
Durch drei Straßen schien sich das Ambulanzfahrzeug von dem New Yorker Feierabendverkehr regelrecht treiben zu lassen, als Luke Canton sich mit der Gewandtheit des erfahrenen Fahrers einen Weg zwischen den fremden Stoßstangen hindurch bahnte. Nur zweimal hatte er zum Armaturenbrett greifen müssen, um die farbigen Signalleuchten zu aktivieren. Mulder beobachtete die Autoschlangen, die unter den Seitenscheiben vorüberglitten, und er fragte sich, wie es möglich war, dass Autos bei solch hoher Geschwindigkeit mit einem derart kurzen Abstand zueinander unterwegs sein konnten. Geordnetes Chaos.
»Es ist wirklich nicht verwunderlich, wenn sie verunglücken«, kommentierte Canton, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Es ist verwunderlich, wenn sie es nicht tun. Wissen Sie, wie viele Menschen jedes Jahr in ihren Wagen sterben?«
Mulder hatte eine vage Vorstellung, zog es aber vor zu schweigen. Canton deutete auf einen zerbeulten Kleinlaster, der zwei Wagen vor ihnen durch den Verkehr schwankte. »Über fünfzigtausend. Der Verkehr kostet etwa so viele Menschenleben wie AIDS. Komische Sache. Wir sind bereit, auf Sexabenteuer zu verzichten. Aber einen abenteuerlichen Fahrstil aufgeben? Nie!«
Mulder fühlte, wie sich der Sicherheitsgurt spannte, als Canton auf die Bremse trat und der Krankenwagen ganz plötzlich nach rechts schwenkte. Er sah zu, wie die Leitplanke näherrückte, als sie in der Straße, in der der Unfall geschehen war, ausrollten. Eigentlich war es keine Straße, sondern mehr eine Fahrrinne, die sich über etwa fünfzig Meter an einer Gleiskurve entlangzog. Sie war nur halb so groß wie die üblichen Verkehrsadern der Stadt. Die Fahrspur war so schmal, dass selbst das Ambulanzfahrzeug kaum Platz darauf fand.
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