Akte X
Leichenstarre aufwiesen. Unter Einsatz ihres Körpergewichtes drehte sie ihn auf den Rücken.
Seine Augen und sein Mund standen offen, und seine jungenhaften Züge waren zu einem Ausdruck der Qual erstarrt. Dort, wo sich das Blut unter der Haut gesammelt hatte, waren Gesicht und die nackte Brust leicht purpurn verfärbt. Scully streckte die Hand aus und schob eine widerspenstige Strähne blonden Haares aus dem Weg, ehe sie den Zeigefinger in die Wange des Jungen preßte. Der Druck ließ die Haut unter ihrer Fingerspitze erbleichen, doch als sie die Hand zurückzog, kehrte die Verfärbung zurück. Erste, noch veränderliche Leichenflecke. Das bedeutete, dass der Tod vor höchstens drei oder vier, mindestens aber zwei Stunden eingetreten war. Aus dem gepeinigten Gesichtsausdruck und der verdrehten Lage seines Körpers schloß Scully, dass er unter Krämpfen gelitten oder mit den Armen gerudert hatte. Aber an seinem Kopf gab es keine sichtbaren Wunden, also war er nicht durch den Sturz gestorben. Es musste eine andere Ursache geben, eine, die innerhalb seines Körpers zu suchen war.
Plötzlich hatte Scully eine Idee, und sie drehte Kem-pers Kopf zur Seite. Aber sein Nacken schien vollkommen in Ordnung zu sein. Keine roten Punkte, keine kreisförmige Hautreizung. Das bedeutete jedoch nicht, dass er nicht trotzdem unter der gleichen Erkrankung gelitten hatte, die Stanton zu dem Gewaltakt getrieben hatte.
Seufzend erhob sie sich wieder. Sie wandte sich zum Waschbecken und drehte den Heißwasserhahn auf. Unter einem Wasserstrahl, so heiß, wie sie es nur ertragen konnte, wusch sie sich mit Seife sorgfältig die Hände. Sie wusste, dass sie bereits ein Risiko eingegangen war, als sie nur den Raum betreten hatte, aber sie bezweifelte, dass sie sich durch die Luft oder auch durch schlichten Körperkontakt infizieren konnte. Durch die Luft übertragbare Viren, die imstande waren, einen so jungen Mann wie Kemper zu töten, waren extrem selten - und wenn John Doe Träger eines solchen Virus' gewesen wäre, müßte es inzwischen bereits weitere Opfer geben. Also wurde die Krankheit vermutlich über das Blut übertragen. Damit bestand Ansteckungsgefahr für die beiden Assistenzärzte, die ihn behandelt hatten, die beiden Medizinstudenten, möglicherweise die Sanitäter, die ihn in die Notaufnahme gebracht hatten, und Bernsteins Operationsteam im Jamaica Hospital.
»Ms. Scully?« Irgendwo im Schlafzimmer erklang das heisere Husten des Hausverwalters. »Ist da drin alles in Ordnung?«
»Mr. Butler«, entgegnete Scully. »Ich möchte, dass Sie hinuntergehen und unten auf den Krankenwagen warten. Ich werde gleich nachkommen.«
Scully lauschte, während sich Butlers schwerfällige Schritte langsam entfernten. Dann trocknete sie ihre Hände und zog das Handy aus ihrer Brusttasche. Ihre Schultern sackten herab, als sie Mulders Nummer wählte. Es klingelte zweimal, bevor er sich meldete.
»Mulder, wo sind Sie?«
Blechern klang seine Stimme in der Hörmuschel des Telefons. »Notaufnahme in der medizinischen Hochschule.«
Scullys Blick wanderte zu dem leblosen Körper auf dem Boden des Badezimmers. In der Ferne konnte sie Sirenen hören, doch sie war nicht sicher, ob das Geräusch durch die dünnen Wände des Appartements oder durch das Telefon an ihre Ohren drang. »Ich nehme an, Sie haben Mike Lifton gefunden?«
»Scully, es geht ihm nicht besonders gut. Als ich ihn hergebracht habe, klagte er über Grippesymptome, jetzt sagen die Ärzte, er sei in eine Art Koma gefallen.«
Scully nickte schweigend. Die Symptome paßten zu ihrer Theorie. Eine Viruserkrankung, ein Virus, das zu einer Schwellung im Gehirn führen konnte. Eine Krankheit, die außerdem imstande war, psychotische Schübe und tödliche Krämpfe auszulösen. »Wir müssen sofort das
Seuchenkontrollzentrum informieren. Sie werden mit jedem sprechen wollen, der Kontakt zu John Doe hatte. Und sie werden schnell handeln müssen - offensichtlich verschlechtert sich der Zustand der erkrankten Personen in enormem Tempo.«
Mulder verfiel am anderen Ende der Leitung in Schweigen, und Scully fragte sich, ob er sich dem Gedanken, Mikroben könnten hinter den besonderen Umständen dieses Falles stecken, noch immer verschloß. Oder hatte ihn die Erkrankung des Medizinstudenten schließlich doch noch davon überzeugen können, dass eine Krankheit die Verbindung aller Fäden ihrer Ermittlungen darstellte? Im Grunde konnte sie sich allerdings nicht vorstellen, dass er
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