Akte X
Wege.
Erneut richtete Tien seine Aufmerksamkeit auf den FBI-Agenten am Boden, und als er das Rasiermesser aus seinem Ärmel zog, druchlief ihn ein wohliger Schauder. Er konnte förmlich sehen, wie das Blut des Mannes dicht unter seiner Haut pulsierte. Er wollte dieses Blut schmecken, wollte spüren, wie es über seine Hände und Lippen floß.
Er glitt zu ihm. Der FBI-Agent lag mit angezogenen Beinen auf der Seite. Sein dunkles Haar war schweißnaß und sein Gesicht grau, während sich seine Pupillen schnell unter seinen Lidern hin- und herbewegten. Tien kniete neben ihm nieder. Er fuhr mit einem Finger über den nackten Arm des Mannes, spürte den schlüpfrigen Schweißfilm und die verspannten Muskeln unter der Haut. Langsam hob er das Rasiermesser...
»Tien. Weg mit dem Messer.«
Tien blickte auf, und Ärger huschte über sein Gesicht. Er verfolgte, wie Julian Kyle die Kammer betrat. Julian trug einen weißen Laborkittel über der Chirurgenkleidung. Seine Hände steckten in Latexhandschuhen, und er hatte eine große Kühlbox unter den rechten Arm geklemmt.
»Onkel Julian«, fauchte Tien. »Du verdirbst alles.«
»Er ist ein Agent vom FBI«, sagte Kyle streng. »So einfach ist das nicht.«
»Ist es doch!« Liebevoll betrachtete Tien die Klinge des Rasiermessers. »Wir sind hier in Thailand nicht in den USA.«
»Das spielt keine Rolle. Sie werden Agenten schicken, das Militär wird sich einschalten . . . Und wir können uns keine Störungen leisten - nicht so kurz vor unserem Experiment. Und es gibt einen besseren Weg.«
Demonstrativ hob Kyle die Plastikkühlbox. Tien seufzte und ließ vom reglosen Körper des FBI-Agenten ab. Ein spöttisches Lächeln zuckte um seine Lippen. Er kannte den wahren Grund für Kyles Zaudern. Julian Kyle war schwach - doch seine Worte klangen logisch. »Ich denke, die Entscheidung liegt bei keinem von uns.«
Tien erhob sich und schob das Rasiermesser wieder in seinen Ärmel. Die Wahrheit war, dass die FBI-Agenten ihr Schicksal selbst besiegelt hatten, in dem Augenblick, als sie in Alkut eingetroffen waren.
»Und die Frau?« fragte Kyle und stellte die Kühlbox auf eine der Pritschen. »Hast du dich auch um sie gekümmert?«
»Yep, ich habe einen Drohnen losgeschickt. Er müßte jeden Moment ihr Zimmer erreichen.« »Und ein Drohn wird genügen?«
Mit einem amüsierten Grinsen verschränkte Tien die Arme vor der Brust. Die Drohnen waren primitive Kampfmaschinen im Vergleich zu dem, was ihnen folgen würde - doch selbst ein Drohn des ersten Stadiums würde problemlos mit der Agentin fertig werden. Kyle brummte zustimmend; er wusste, dass Tien recht hatte: Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Dana Scully neben ihrem Partner lag.
Kapitel 21
Scully beobachtete, wie die kleine grüne Eidechse über den perforierten Metallschirm kroch. Die Eidechse hatte hervorstehende schwarze Augen, dunkelrote Flecken und einen gebogenen, spitz zulaufenden Schwanz. Wahrscheinlich eine Art asiatischer Gecko, überlegte sie, der ferne Nachfahre irgendeiner Dinosaurierspezies, die zu primitiv war, um zu begreifen, dass sie eigentlich hätte ausgestorben sein sollen. Im Moment tat der Gecko sein Bestes, um den Fehler der Evolution zu korrigieren. Zentimeter unter dem Metallschirm surrten die propellerförmigen Blätter eines Ventilators vorbei und schaufelten schwüle Luft durch das vollgestopfte Hotelzimmer. Während der Gecko über den Schirm kroch, geriet sein Schwanz in gefährliche Nähe der Rotorblätter - jede Sekunde konnte der Ventilator das kleine Geschöpf erfassen, in Stücke hacken und über den ganzen Raum verteilen.
Jackson Pollock in Reptilienformat. Scullys Meinung nach konnte ein solcher Vorfall der spartanischen Hoteleinrichtung auch nicht weiter schaden. Der wuchtige, antiquierte Ventilator ruhte auf einem Teaknachttisch neben einer wasserfleckigen Doppelmatratze. Auf dem Boden lag ein grobgeknüpfter Teppich, und neben dem Wandschrank stand eine ramponierte Holzkommode. Vor dem Schreibtisch, an dem Scully saß und zu arbeiten versuchte, flackerte eine brusthohe, rostige Metallampe mit einem Schirm aus Ziegenhaut. Aus ihrem Fuß quollen nackte Drähte, die hörbar im schwankenden Stromfluß aus der Wandsteckdose summten.
Der Schreibtisch selbst war kaum größer als der Nachttisch und der Stuhl den zierlichen Maßen der Thais angepaßt. Scully, die ebenfalls klein war, bereitete das keine Probleme, doch Mulder wäre es ziemlich schwergefallen, seine langen Beine unter der
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