Akte X
Grinsen wurde noch eine Spur breiter. „Du machst dir zu viele Gedanken. Vergiß doch mal den ganzen Mist, den du auf der Schule gelernt hast. Die alten Rohre haben schon 50 Jahre gehalten, also werden sie noch ein wenig warten können."
„Das wurde auch vom kommunistischen System behauptet, bis es zusammengebrochen ist", gab Dmitri zurück.
„Wir wollen keine Zeit damit vergeuden, über Politik zu debattieren." Serge fuhr sich durch seine fettigen Haare. „Wir haben ein dringenderes Problem. Ich habe eben einen Bericht erhalten, daß die Toiletten nicht mehr funktionieren. Wir können ohne die Maschine auskommen, aber nicht ohne Klo. Also müssen wir schleunigst sehen, was wir da unternehmen können."
Dmitri zog eine unwillige Grimasse. Serge hatte „wir" gesagt, also würde er die Arbeit ganz allein erledigen müssen.
„Komm mit!" befahl Serge, kletterte die Leiter hinauf und ging dann einen schmalen Flur entlang bis zu dem Waschraum, der von der gesamten Mannschaft benutzt wurde, mit Ausnahme der Offiziere natürlich.
Sie mußten durch die stinkende, braune Flüssigkeit waten, die offenbar aus den Toiletten gelaufen war.
„Da scheint alles verstopft zu sein", brummte Serge. „Wir müssen herausfinden, warum."
Sie verließen den Waschraum wieder und stiegen die Leiter hinab in die Tiefe des Schiffes. Als sich der Oberingenieur näherte, versteckten einige der Seeleute ihre glimmenden Zigaretten, auf die sie trotz des strengen Rauchverbots nicht verzichten wollten.
Serge ignorierte sie und deutete auf eine Metallplatte, die an einem Schott befestigt war. „Dahinter ist der Entsorgungstank für die Toilette. Was immer die Rohre verstopft, wir müssen es finden und entfernen."
„Und warum muß immer ich solche Sachen machen?" begehrte Dmitri auf.
Serge lachte rauh, fast bellend.
„Weil du das Küken bist! Und weil es eine besonders unangenehme, besonders stinkende Arbeit ist." Zwei andere Seeleute stimmten in sein höhnisches Gelächter ein, während er Dmitri den Druckluftschraubenzieher hinüberreichte.
Mit einem grimmigen Nicken machte sich Dmitri daran, die Schrauben der Metallplatte zu entfernen. Nach zehnminütiger Plackerei konnte er die Platte schließlich abheben.
Der ausströmende Gestank warf die Männer beinahe um. Serge, der sich möglichst weit entfernt hielt, trieb ihn an: „Weiter so, Dmitri."
Dmitri drehte sein Gesicht von der Luke weg und nahm einen tiefen Atemzug, bevor er den Kopf in den Tank steckte und mit seiner Taschenlampe ausleuchtete. Da er den Grund für die Verstopfung nicht entdecken konnte, beugte er sich immer weiter vor. Dann wurde seine Luft knapp, doch gerade als er sich zurückziehen wollte, bemerkte er eine Bewegung am Grunde des Tanks.
Es war schmutzig-weiß und schleimig. Dmitri riß die Augen auf. Es war eine Hand!
Plötzlich schoß ein Arm aus der stinkenden Brühe.
Eine zweite Hand und ein zweiter Arm folgten.
Dmitri versuchte, sich zurückzuziehen, doch da hatten die Hände bereits seinen Hals umklammert und zogen ihn mit dem Gesicht voran in die Kloake.
Ohne nachzudenken, pumpte er seine Lungen mit der ammoniakhaltigen Luft voll und schrie um Hilfe.
Serge und die beiden anderen Seeleute sprangen hinzu und bekamen gerade noch seine Füße zu fassen. Sie waren große, starke Kerle - aber sie waren nicht groß und nicht stark genug, um es mit diesem Gegner aufnehmen zu können.
Dmitris glitschige Stiefel glitten aus ihren Händen, und der junge Mann verschwand im Bruchteil einer Sekunde in den Tiefen des Tanks. Serge vergaß den Gestank und steckte seinen Kopf durch die Öffnung - und konnte gerade noch sehen, wie Dmitris Arbeitsstiefel im Dreck versanken. Doch als er eine weitere Gestalt entdeckte, riß er den Kopf zurück und schrie: „Flutet den Tank! Schnell, flutet den Tank!"
Während Serge weiter auf die Luke starrte, wurde sein Befehl in Windeseile ausgeführt. Doch erst als er die Kolben der anlaufenden Pumpe hörte, die den Tankinhalt ins Meer hinausbeförderte, konnte er wieder aufatmen.
„Schraubt den Deckel fest!" ordnete er an und eilte zurück in den dunklen Maschinenraum, damit die anderen seine Erschütterung nicht sehen konnten. Er wußte nicht genau, was er da im Tank gesehen hatte, und er wollte es auch gar nicht wissen. Er war zu einer Zeit in Rußland aufgewachsen, wo es nicht gut für die Gesundheit war, zu viele Fragen zu stellen oder gar nach Menschen zu fragen, die verschwunden waren. Doch eines wußte er: das Schiff und seine
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