Akunin, Boris - Pelagia 01
Betrachtung preisgegeben.
»Miss Wrigley hat Großmutters Hunde wirklich nicht gemocht, aber anzunehmen, dass sie . . . Nein, undenkbar.« Pjotr schüttelte den Kopf. »Sie kennen sie ja gar nicht, Wladimir Lwowitsch. Das heißt, von außen könnte es verdächtig erscheinen, muss es sogar, aber ich kenne Miss Wrigley seit meiner frühesten Kindheit, kann mich voll für sie verbürgen und versichere Ihnen, dass diese Vermutung keinerlei Grundlage . . .«
»Sie war’s, die Engländerin, wer denn sonst«, unterbrach einer der Gäste diese wirren Versicherungen. »Solch ein Vorgehen ist irgendwie unrussisch. Nicht einfach töten, sondern einem Menschen das Herz brechen. Viel zu ausgeklügelt für einen Rechtgläubigen. Aber wozu noch reden, der Fall ist klar.«
Selig schloss sich an.
»Wer Augen hat, der sehe, wer Ohren hat, der höre.«
»Schluss mit dem Unsinn!« Naina trat zu Miss Wrigley und nahm ihre Hand. »Don’t listen to them. They do not know what they are saying. (Hören Sie nicht auf sie. Sie wissen nicht, was sie reden.) “« Naina ließ den hasserfüllten Blick von einem zum anderen gleiten. »Sie haben schon das Urteil gesprochen! Ich lasse nicht zu, dass man sie kränkt!«
Die Engländerin schluchzte und legte die Stirn dankbar an Nainas Schulter.
»Aber Naina Georgijewna, es steht nicht in Ihrer Macht, die gesetzlich vorgeschriebene Untersuchung abzuwenden«, bemerkte der Adelsmarschall. »Wir verstehen natürlich Ihre Gefühle und achten sie, doch ob hier ein Verbrechen vorliegt und wer dafür verantwortlich ist, soll die Polizei untersuchen. Nach meiner tiefen Überzeugung hat ein Verbrechen stattgefunden, und es ist als Mordanschlag zu werten. Ich bin sicher, dass das Geschworenengericht so entscheiden wird.«
»Katorga?«, piepste Miss Wrigley entsetzt und sah sich gehetzt um. »Sibirien?«
»Dachten Sie Brighton?«, antwortete böse der Adelsmarschall, stolz auf seine Kenntnis europäischer Badeorte.
Die Engländerin senkte den Kopf und weinte leise, sie hoffte wohl auf nichts mehr. Naina, hochrot vor Unmut, legte ihr den Arm um die Schultern und flüsterte tröstlich auf sie ein, aber Miss Wrigley sagte immer wieder bitter:
»Nein, nein, ich bin hier eine Fremde, the Jury will condemn me (Die Geschworenen werden mich verurteilen.) . . .«
Schwester Pelagia, der die klägliche Szene das Herz zerriss, sah den Bischof flehend an. Der nickte beruhigend. Er klopfte mit dem Krummstab auf den Fußboden, räusperte sich, und sofort verstummten alle und wandten sich ehrfurchtsvoll ihm zu.
»Lasst diese Frau in Ruhe«, dröhnte er. »Sie ist unschuldig.«
»Aber das Testament, Euer Bischöfliche Gnaden?« Der Adelsmarschall breitete die Arme aus. »Das oberste Prinzip lautet doch: cui bono (Wem nützt es) .«
»Graf Gawriil Alexandrowitsch.« Der Bischof drohte ihm belehrend mit dem Finger. »Piroggen backen ist Sache des Bäckers, und Ihre Sache ist es, sich um Ihre Adligen zu kümmern, nicht aber Ermittlungen anzustellen, wofür Sie, nicht böse sein, keinerlei Voraussetzungen mitbringen.«
Der Adelsmarschall lächelte verlegen, und Mitrofani sprach ruhig weiter:
»Es ist unrecht, die Versicherungen der beiden jungen Leute, die diese Frau fast seit ihrer Geburt kennen, in den Wind zu schlagen. Wenn Ihnen das aber nicht genügt, dann bitte: Als der erste Hund getötet wurde, war das Testament noch gar nicht auf Miss Wrigley umgeschrieben. Na, Gawriil Alexandrowitsch, wo bleibt da Ihr cui bono?«
»Tja, das stimmt!« Poggio knackte respektlos mit den Fingern. »Der Bischof ist ja scharfsinnig.«
Der nun gänzlich konfuse Adelsmarschall breitete wieder die Arme aus.
»Aber erlauben Sie mal, wer hat dann die Hunde umgebracht? Oder soll das geheim bleiben?«
Das Schweigen war so angespannt, und die Blicke aller richteten sich so erwartungsvoll auf den Bischof, dass er der Verlockung nachgab.
»Vor den Menschen geheim, vor Gott nicht«, sagte er gewichtig. »Und von IHM wissen es SEINE Diener.«
Da erstarb im Salon jede Bewegung. Bei der Tür stand, mit beiden Händen das weiße Schürzenband haltend, das Zimmermädchen Tanja. Bubenzow hielt den Kopf skeptisch geneigt. Miss Wrigley hatte eben die Tränen trocknen wollen, aber die Hand mit dem Tüchlein stockte. Selbst die stolze Naina sah den Bischof wie verzaubert an.
Mitrofani ergriff Pelagia bei der Hand und zog sie in die Mitte des Raums.
»Auf mein Geheiß hat sich Schwester Pelagia, die mein scharfes Auge ist, etliche Tage hier
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