Akunin, Boris - Pelagia 01
Aufsicht, und ich traue diesem Nihilisten jede Schurkerei zu. Wenn er sogar schon nach den Grundlagen des Staates ausgeholt hat, was soll ihm da ein Menschenleben wert sein? Und hier wäre es sogar in gewissem Sinne entschuldbar – er trat für die Ehre seiner Schwester ein. Aber das ist noch nicht alles.« Zu den zwei Fingern gesellte sich der Ringfinger, freilich eingebogen. »Sytnikow. Ein verschlossener Herr, aber mit Leidenschaften. Nach meinen Informationen ist er keineswegs gleichgültig gegenüber den Reizen der Telianowa. Und da haben Sie auch schon das Motiv – Eifersucht auf den erfolgreicheren Rivalen, Sytnikow würde nie als Räuber in der Nacht auftreten, das wäre unter seiner Würde, aber einen seiner Leute losschicken, das brächte er wohl fertig. Seine Angestellten sind sämtlich Altgläubige. Bärtig, finster, gegen die Macht eingestellt.« Die Idee von den altgläubigen Mördern schien nach Lagranges Geschmack zu sein. »Ja, durchaus möglich. Man wird es Bubenzow melden müssen.«
»Apropos Bubenzow«, bemerkte Berditschewski mit harmloser Miene. »Da ist ja auch nicht alles klar. Man behauptet, die Fürstin Telianowa habe Poggio nicht einfach so verlassen, sondern wegen Bubenzow.«
»Humbug.« Der Polizeimeister schwenkte die Hand mit gespreizten Fingern. »Weibertratsch. Mag ja sein, dass die Telianowa sich nach Bubenzow verzehrt, kein Wunder, er ist ja auch ein besonderer Mann. Aber sie ist ihm völlig gleichgültig. Auch wenn früher zwischen ihnen was gewesen sein sollte. Wo ist das Motiv? Eifersucht auf eine Geliebte, die ihm nichts bedeutet und die er loswerden möchte? Deswegen einen Mord begehen? Das gibt es nicht, Matwej Benzionowitsch.«
Berditschewski musste zugeben, dass Lagrange Recht hatte.
»Wie gehen wir nun vor?«, fragte er.
»Ich meine, für den Anfang wäre es nicht schlecht, alle drei gründlich zu verhören . . .«
Der Polizeimeister sprach nicht weiter, denn er sah etwas abseits die Nonne stehen. Die Photoschnipsel lagen, säuberlich zu Quadraten geordnet, auf dem Fußboden längs der Wand.
»Was haben Sie denn hier zu suchen?«, rief er gereizt. »Packen Sie das zusammen und gehen Sie. Noch besser, Sie fegen den ganzen Müll hier zusammen.«
Pelagia verneigte sich schweigend und stieg hinauf in den ersten Stock.
Die Polizeibeamten, welche die Haussuchung durchgeführt hatten, saßen im Laboratorium und rauchten Papirossy.
»Na, Schwesterchen?«, sagte fröhlich der Polizist mit dem faltigen Gesicht. »Was verloren?«
Die Nonne sah, dass die Glasscherben eingesammelt und geordnet worden waren wie die Schnipsel im Salon. Der Spaßvogel war ihrer Blickrichtung gefolgt und bemerkte:
»Da sind welche bei, die Sie nicht ansehen sollten. Er war ein lebenslustiger Herr, dieser Poggio. Schade, dass die Bilder nicht wiederherzustellen sind.«
Pelagia fragte:
»Sagen Sie, mein Herr, gibt es hier eine Photoplatte mit dem Titel › Ein regnerischer Morgen ‹ ?«
Der Polizist hörte auf zu lächeln und zog verwundert die Brauen hoch.
»Seltsam, Schwester, dass Sie danach fragen. In dem Verzeichnis hier steht › Ein regnerischer Morgen ‹ , aber die Platte haben wir nicht gefunden. Keinen Splitter. Wahrscheinlich war er damit unzufrieden und hat sie weggeworfen. Was wissen Sie darüber?«
Pelagia schwieg, die rötlichen Brauen zusammengezogen. Sie überlegte.
»Also, was ist denn nun mit dem › Regnerischen Morgen?«, beharrte der Faltige.
»Stören Sie nicht, mein Sohn, ich bete«, antwortete die Nonne zerstreut, drehte sich um und stieg hinunter.
Im Salon nämlich fehlte das Photo mit diesem Titel. Alle aus den Schnipseln zusammengesetzten Bilder entsprachen den an den Wänden gebliebenen Titeln, selbst die drei mit der nackten Unbekannten, die den Skandal ausgelöst hatten. Von der Aufnahme aber, die den unauffälligen Titel »Ein regnerischer Morgen« trug, war nicht das winzigste Fragment vorhanden.
»Und doch muss Bubenzow auch vernommen werden!«, hörte sie, als sie den Salon betrat.
Berditschewski und Lagrange schienen sich über den Kreis der Verdächtigen nicht einigen zu können.
»Einen solchen Mann durch Zweifel zu beleidigen! Besinnen Sie sich, Herr Berditschewski! Natürlich unterstehe ich Ihnen, aber . . . Was willst du denn noch?«, schnauzte der Polizeimeister Pelagia an.
»Man muss alle zusammenholen, die gestern hier waren, und gemeinsam für das Seelenheil des verschiedenen Gottesknechts beten«, sagte sie und sah Lagrange mit ihren
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