Al Wheeler und die letzte Party
ein verschossenes blaues Baumwollhemd.
Spärlich gesäte Büschel weißen Haares umrahmten seinen Schädel und verliehen
ihm ein fast biblisches Äußeres.
»Entschuldigen
Sie«, sagte ich, ließ die Zigarette fallen und trat sie aus.
Er
nickte gnädig zum Zeichen, daß er mir vergeben hatte. »Sind Verwandte von Ihnen
hier begraben?«
»Nein«,
antwortete ich. »Der Anblick von der Straße her war so verlockend, daß ich eine
Minute Rast machen wollte.«
»Ich
pflege die Anlagen«, sagte er einfach. »Ich habe es mehr oder weniger zu meinem
Lebensinhalt gemacht, seit meine Tochter gestorben ist. Meine Frau liegt in der
Nordostecke dort drüben begraben.« Er deutete vage mit dem Finger in die
betreffende Richtung.
»Sind
Sie Mr. Coleman?« fragte ich. »Die Kellnerin im Restaurant hat mir erzählt, daß
Sie sich um die Gräber kümmern.«
»Seit
zehn Jahren hat mich niemand mehr >Mister< genannt«, brummte er. »Alle
sagen nur noch Opa Coleman. Einige meinen sogar, ich sei ein bißchen verrückt —
vielleicht bin ich’s auch.«
»Ist
das Ihre Tochter — Pearl —, die hier liegt?« Ich machte eine Kopfbewegung in
Richtung der Marmorflügel.
»Ja,
das ist mein Mädchen«, antwortete er. »Hübsch, der Marmor, nicht wahr? Ich
dachte, daß er Pearl gefallen hätte — hübsche Sachen mochte sie immer.«
»Sehr
hübsch«, sagte ich höflich. »Ich wundere mich nur über die Inschrift — die
letzte Zeile scheint nicht recht dazuzupassen .«
»Soll
sie auch nicht«, sagte er trotzig. »Sie soll genau das ausdrücken, was da
steht, junger Mann! Die Rache ist mein — so wird es auch sein. Acht Jahre warte
ich jetzt schon darauf, und ich werde acht weitere Jahre warten, wenn es sein
muß. Meine letzte Stunde schlägt nicht, bevor der Herrgott mir gibt, was mir
rechtmäßig zusteht!«
»Ihre
Rache?« sagte ich. »An wem?«
Sein
Gesichtsausdruck wurde wieder abweisend. »Das geht Sie nichts an«, sagte er
kalt.
»Vermutlich
nicht«, sagte ich unbefangen. »Aber vielleicht können Sie mir helfen. Ich suche
ein Mädchen namens Shane, Sandra Shane.«
»Das
letzte, was ich von ihr gehört habe, ist, daß sie für Lou Roberts gearbeitet
hat«, sagte er gleichgültig. »Ihm gehört die Bar hier in der Stadt — ist zwar
nichts Besonderes, aber alles, was wir haben. Abgesehen davon habe ich seit dem
Tod meiner Pearl keinen Tropfen Schnaps mehr getrunken.«
»Vielen
Dank«, sagte ich. »Ich werde dort nachfragen.«
»Pearl
und ich danken Ihnen für Ihren Besuch«, sagte er mit rauher Stimme.
Ich
zögerte einen Augenblick. »Dieser leere Platz neben dem Grab Ihrer Tochter —
ist er für jemanden reserviert?«
Er
hob ein wenig den Kopf. »Warum fragen Sie das?«
»Ach,
reine Neugier«, sagte ich. »Ich habe mich nur gefragt, wie es hier gehandhabt
wird — nehmen Sie die Plätze, wie sie gebraucht werden, oder lassen sie sich
die Leute reservieren?«
»Der
hier ist reserviert«, sagte er mit leiser Stimme. Die blaßblauen Augen begannen plötzlich wütend zu funkeln. »Für eine leibhaftige Ausgeburt der
Hölle. Für die angemalte Dirne mit der rabenschwarzen Seele, die mir meine
Tochter vor der Zeit genommen hat.«
»Judy Manners ?« fragte ich.
»Das
wissen Sie?« Seine Stimme bekam einen häßlichen Klang. »Sie hat Sie
hierhergeschickt — um mich auszulachen und zu verhöhnen. Richten Sie ihr aus,
daß ihre Zeit bald kommen wird. Die Rache wird aus dem Himmel auf sie
niederfahren wie ein feuriger Blitzstrahl!«
»Ich
werde es ihr ausrichten«, sagte ich müde.
»Gehen
Sie!« Mit einer dramatischen Geste deutete er auf den niedrigen Zaun. »Sie
besudeln geweihte Erde! Gehen Sie, bevor der Zorn sich auf Sie herabstürzt und
— « Aber da war ich schon gegangen.
Ich
ließ den Motor an und warf einen letzten Blick auf den Friedhof von Oakridge . Opa Coleman stand bewegungslos da. Sein
ausgestreckter Arm deutete direkt auf mich. Die untergehende Sonne hing
unmittelbar über dem Horizont, und seine Gestalt hob sich vor der roten Scheibe
wie eine schwarze Silhouette ab — ja mehr noch — wie eine Figur aus dem Alten
Testament.
Einen
Augenblick lang spürte ich, daß es mir eiskalt über den Rücken lief, dann
drückte ich auf das Kupplungspedal, und die komplizierte Maschine aus dem
zwanzigsten Jahrhundert brachte mich wieder zurück auf die Hauptstraße.
Drei
Minuten später betrat ich die Bar, und ich mußte Opa Coleman in einem Punkt
recht geben, es war nicht viel damit los — es war nicht einmal
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