Alanna - Das Lied der Loewin
schlecht angesehen hier im Stamm?«
Gammal zündete sich eine Pfeife an und paffte gedankenverloren, bevor er antwortete: »Ishak, der Junge, behauptete, er sähe Bilder im Feuer, als er gerade sechs Jahre alt war«, antwortete er.
»Natürlich«, sagte Alanna verdutzt. »Er sagte mir ja selbst, dass er die Gabe hat. Für einen Jungen seines Alters erhielt er bisher nicht sonderlich viel Unterweisung.«
Diese Bemerkung wischte Gammal mit einer Handbewegung weg. »Über Kourrems Bett hingen Feuerbälle in leuchtenden Farben, und sie spielte damit. Kara schleudert Gegenstände durch die Gegend, ohne sie zu berühren, wenn sie wütend ist. Der Schamane sagt, die drei seien verflucht. Ishak wurde von seiner Familie dem Großvater übergeben, damit er ihn unterrichtet, aber die Mädchen wurden von ihren Eltern verstoßen, sobald sie sich selbst versorgen konnten.«
Alanna konnte nicht glauben, dass sie richtig gehört hatte. »Aber all diese Zeichen deuten doch darauf hin, dass die drei die Gabe – also Zauberkraft – besitzen«, flüsterte sie. »Und Ibn Nazzir behauptet, sie seien verflucht? «
Gammal nickte. »Manche vom Stamm sind der Meinung, der Schamane müsse sich irren. Sie kümmern sich um die
drei, geben ihnen Kleidung und zu essen. Halef Seif ist einer davon.«
»Und du bist wahrscheinlich auch einer davon«, vermutete Alanna.
Gammal senkte zustimmend den Kopf. Alanna grübelte währenddessen über ein weiteres Problem nach. »Heißt das, dass die Mädchen nie unterrichtet wurden? Sie wissen nicht, wie sie mit ihrer Kraft umzugehen haben?« Gammal schüttelte den Kopf. »Große Gnädige Mutter«, meinte Alanna. »Ich würde lieber in einer Schlangengrube leben als in einem Dorf zusammen mit zwei Mädchen, die nicht wissen, wie sie ihre Zauberkraft unter Kontrolle halten können! Ist sich denn keiner bewusst, wie gefährlich das ist? Sie müssen aber gelernt haben ihre Magie zu einem gewissen Grad zu kontrollieren, sonst wäre von euch keiner mehr da. Sind euch denn keine eigenartigen Dinge aufgefallen, wenn einer von den dreien wütend war oder krank?«
Gammal nickte gelassen. »Einmal kam ein Blitz vom Himmel gefahren und hätte um ein Haar den Schamanen getroffen«, sagte er. »Und andauernd gibt es starke Winde und seltsame Stürme. Zu solchen Zeiten befiehlt uns der Schamane, sie zu töten, doch das lässt Halef Seif nicht zu. Die Stimme ebenso wenig. Also leben sie hier, bis sich das Gleichgewicht zu ihren Gunsten eingependelt hat.«
Bald darauf verabschiedete sich Alanna. Die Bazhir waren scheinbar gern bereit Dinge einfach auf sich zukommen zu lassen. Das erschien ihr seltsam, weil dieses Volk doch sonst so tatkräftig war. War ihnen denn nicht klar, dass man die Dinge nur ändern konnte, indem man handelte? Als sie versuchte Ali Mukhtab zu schildern, wie sehr sie das Ganze irritierte, war er belustigt.
»Wir glauben an das erhabene Gleichgewicht«, erklärte er. »Irgendwann pendelt sich alles selbst ein. Das Gleichgewicht verschiebt sich – es lässt sich nicht vorherbestimmen. Weißt du, es ist wie die Wüste. Der Sand ist ständig in Bewegung, doch bleibt die Wüste dieselbe. Der Mensch kann die Wüste nicht ändern und der Mensch kann keinen Einfluss nehmen auf das Gleichgewicht.«
Alanna schüttelte gereizt den Kopf. »Es ist nicht meine Art, darauf zu warten, dass die Dinge irgendwann passieren «, murrte sie. »Hätte ich gewartet, bis sich das Gleichgewicht einpendelt, dann wäre ich jetzt die Frau irgendeines Edlen und würde nichts kennen außer meinem Zuhause und meinen Ländereien.«
»Vielleicht bist du ein Werkzeug dieses Gleichgewichts«, schlug Mukhtab vor. »Durch deine Anwesenheit sorgst du dafür, dass sich die Waagschalen heben oder senken.«
»Das ist Unsinn«, entgegnete Alanna und spielte mit dem Glutstein an ihrem Hals.
Tagelang dachte Alanna über ihre neuen Freunde nach. Sie waren nicht bitter oder schwermütig wegen ihres Schicksals und an ihren endlosen Fragen konnte man ablesen, wie willig sie waren dazuzulernen. Um ihres eigenen Seelenfriedens willen hätte sie versucht, die drei selbst zu unterrichten, aber in derartigen Dingen waren die Gebräuche der Bazhir überaus streng. Unterricht in der Magie erteilte immer der Schamane. Nur in diesem Stamm, wo sich der Schamane der geringfügigen Zauberkraft, die er selber besaß, nicht sicher war, wurde niemand unterrichtet. Wenn sie gegen die Gebräuche der Bazhir verstieß, würde nicht einmal Ali
Weitere Kostenlose Bücher