Alanna - Das Lied der Loewin
Alanna, als sie sich zum Schlafengehen fertig machte. Ich weiß nicht, wieso, aber in letzter Zeit denke ich laufend, ich müsste nach Hause. Und zwar je schneller, desto besser. Wenn ich nur Thom oder Jon erreichen könnte – irgendeinen, der mir sagt, was in Tortall vor sich geht.
Am nächsten Vormittag vertrieben sie sich die Zeit mit all den Aufgaben, die unterwegs vernachlässigt worden waren. Alanna und Coram verbrachten die Stunden nach dem Frühstück in den Ställen, um Sattel- und Zaumzeug zu flicken. Liam war mit seiner Kampfausrüstung beschäftigt, während Thayet Kleider flickte. Buri putzte die Waffen. Bis zum Mittagessen war ihnen schließlich allen nach etwas Abwechslung
zumute. Also gingen sie in den Gastraum, um zu sehen, wer außer ihnen noch hier festsaß, solange der Sturm wütete.
Zwei Händlergruppen waren da. Die eine trug Gewürze zu den Tälern nördlich des Lumuhu und des Chitral, die andere wollte Felle und handgewobene Waren nach Süden zur Hafenstadt Udayapur bringen. Vier Ortsansässige – zwei Schäfer, ein Hufschmied und ein Bergführer – kamen dazu, außerdem eine fünfköpfige Gruppe von Doi. Die Doi waren an Alanna und ihren Freunden nicht weniger interessiert als Alanna an ihnen. Während der ganzen Mahlzeit wechselten sie Blicke mit ihr.
»Liam«, flüsterte Alanna so unauffällig wie möglich. »Wer ist diese Doi-Frau mit dem Onyx mitten auf der Stirn?«
Liam nickte ernst zu den Doi hinüber. Sie verbargen kurz ihre Augen, ein Zeichen von Respekt, wie der Drache ihr leise erklärte. »Eine Wahrsagerin«, antwortete er. »Die stehen bei den Doi ebenso in Ehren wie bei euch die Priester. Jeder Wahrsager verwendet andere Methoden. Manche lesen aus den Teeblättern in einer Tasse, manche sagen dir deine Zukunft nach den Sternen voraus. Ich hab mir meine auch mal sagen lassen. Es ist interessant.«
»Du magst doch keine Magie?«, fragte sie überrascht.
Liam schüttelte den Kopf. »Es ist nicht das Gleiche. Kein funkensprühendes Feuer, nichts, was auf dich zufliegt, keine Dinge, die sich verändern. Ein Wahrsager sieht sich etwas an, das wirklich ist.«
Einer der Doi-Männer kam herüber und bedeckte kurz die Augen, um seinen Respekt vor Liam zu zeigen. »Drachenmann, wir gehören zum Stamm der Felsenmaus.«
»Ich kenne diesen Stamm«, entgegnete Liam.
»Mi-chi, unsere Frau, die sieht, weiß, dass die Zeit stillsteht, wenn man den Wind nicht mehr spürt. Falls ihr mögt, liest sie allen aus der Hand.«
»Es wird uns eine Ehre sein.« Liam erhob sich. Dabei flüsterte er den anderen zu: »Es ist eine Beleidigung abzulehnen.«
Thayet nahm neben Mi-chi Platz, als diese sie herwinkte. »Ich lese Hände«, sagte Mi-chi. Ihre Stimme war tief, ihre Augen dunkel und geheimnisvoll. »Man sagt, die Hand, mit der du einen Bogen spannst oder im Kochtopf rührst, zeigt den Teil von dir, den die anderen sehen. Die weniger benutzte Hand, das ist dein Inneres.«
»Ich bin Rechtshänderin.«
Mi-chi nahm die linke Hand der Prinzessin und drehte sie um. Keiner sprach, als sie mit den Fingern über die Linien auf der Handfläche fuhr. Neugierig erforschte Alanna die Doi mit ihrer Gabe. Die Zauberkraft der Wahrsagerin war wie die der Buri, sie stammte aus der Erde, nicht aus einer Quelle im Inneren der Person, die sie benutzte.
»Was siehst du?«, wollte Thayet wissen.
Mi-chi sah sie lächelnd an. »Du hast nur deine Ketten verloren, große Lady. Folge deinem Herzen – es führt dich zu einem mächtigen Ort. Und vergiss deine Heimat. Du wirst sie nie mehr sehen.«
Thayet erhob sich und ging mit abgewandtem Gesicht hinüber zum Feuer. Buri beobachtete ihre Herrin einen Augenblick lang, bevor sie neben der Doi Platz nahm. »Was du auch immer zu sagen hast, sag es mir leise, ja?«, bat sie, als sie ihre rechte Hand ausstreckte.
Mi-chi war einverstanden. Anschließend weigerte sich Buri zu verraten, was ihr die Frau vorhergesagt hatte. Coram,
der Nächste, brachte dieselbe Bitte vor. Als er aufstand, lächelte er – was die Zukunft auch für ihn bereithalten mochte, es schien ihm zu gefallen.
Jetzt sah Mi-chi mit einem Lächeln zu Liam hoch. »Du kennst dein Schicksal bereits, Drachenmann. Nichts, was ich sage, wird deinen Weg ändern oder das, was du darüber weißt.« Sie blickte zu Alanna hin. »Jetzt du.«
Alanna nahm neben Mi-chi Platz und reichte ihr die linke Hand. Mi-chi nahm beide. Aufmerksam studierte sie die mit Hornhaut bedeckten Handflächen der Ritterin. Als sie
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