Alanna - Das Lied der Loewin
pelzgefütterten Umhang über. Sie ließ ihren Blick über die Gestelle mit Schneeschuhen wandern, wählte das kleinste Paar und befestigte es an ihren Stiefeln. »Hoffentlich weiß ich noch, wie man mit diesen Dingern umgeht!«
Sie stand auf und machte eine Bestandsaufnahme. Hatte sie irgendetwas, was ihr hilfreich sein konnte, vergessen? Ein Kleidungsstück oder etwas anderes?
Selbst wenn, dann fiel es ihr jedenfalls nicht ein. Behutsam holte sie ihre Gabe hervor, sandte sie in ihre Kleidung und band die Stallwärme in jede einzelne Lage. Um sicherzugehen, besiegelte sie das Ganze mit einem rituellen »So soll es sein!« Die Wärme legte sich über sie wie eine Decke. Sie holte tief Luft, öffnete die Stalltür einen Spaltbreit und ging nach draußen. Doch bevor sie die Tür wieder schloss, schickte sie einen kleinen Zauber zu dem schlafenden Jungen zurück, damit er in fünf Minuten aufwachen und die Tür verriegeln würde.
Im Schutz der hohen Mauer, die den Gasthof umschloss, lag der Schnee auf den Höfen nur ungefähr einen Fuß hoch. Während sie das Tor fand und es öffnete, machte sie sich auf den ersten ungebremsten Windstoß gefasst. Er warf sie fast um, als er sie traf. Sie stemmte sich in den Sturm, ging durchs Tor und zerrte es hinter sich zu.
Der Wind war so scharf, dass sie kaum atmen konnte. Eisige Kälte stach in ihre Brust, und sie begann zu zittern. So eine Kälte, jammerte etwas in ihr. Ich hasse Kälte!
Alanna zwang einen Fuß vorwärts. Ich hatte schon mal bessere Einfälle. Sie gab sich Mühe, nicht an Eis und Wind zu denken. Andererseits – wie kann es Liam wagen, mir zu sagen, was ich tun soll? Mir ging es ganz gut, bevor ich ihn traf. Mühsam hob sie den anderen Fuß, setzte ihn wieder zu Boden. Der zweite Schritt. Sie sah so gut wie gar nichts. Woher soll ich eigentlich wissen, ob das die richtige Richtung ist? Sie hob ein Bein, senkte es wieder, immer gegen den Wind. Aller guten Dinge sind drei. Irgendwie kam sie vorwärts. Derjenige, der diesen Pass beherrschte – wer es auch war –, würde es ihr so schwer wie nur irgend möglich machen. Mit diesem Wissen kämpfte sie sich geradewegs in den Sturm hinein.
Seit ihrer Abreise aus Trebond vor vielen Jahren, wo sie die Schneeschuhe den ganzen Winter über kaum abgelegt hatte, hatte sie nur selten einmal welche benutzt. So dauerte es eine Weile, bis sich ihre Beine und Füße wieder daran gewöhnten, mit ihnen zu laufen: Lange Schritte machen, die Schneeschuhe ganz aus dem Schnee heben, dann wieder absetzen. Alle sechs oder sieben Schritte anhalten, um den Schnee abzuschütteln, der sich auf der breiten Oberfläche anhäuft. Es war hart für ihre Beinmuskeln, die inzwischen ans Reiten gewöhnt waren, aber dafür war sie dankbar. Für alles, was sie von der Kälte ablenkte, war sie dankbar. Selbst ihrer Gabe würde es nicht gelingen, die Kälte vollkommen abzuhalten, und inzwischen verbrauchte die Gabe sich gefährlich schnell. Begann der Boden unter ihr anzusteigen, oder täuschte sie sich?
Sie täuschte sich nicht. Sie prallte gegen eine hohe, steinerne Säule, die den Punkt markierte, an dem der Weg die Talsohle verließ und zum Pass hinaufführte. Alanna blieb einen Augenblick lang im Windschatten des Felsens stehen. Sie war vollkommen erledigt und schnappte nach Luft.
An einem windstillen Tag hätte ich für diese Strecke fünf Minuten gebraucht. Seit wann bin ich unterwegs? Seit einer Stunde? Sie stieß sich von ihrem Unterstand ab und wieder in den Wind hinaus.
Eine plötzliche Böe schleuderte sie auf die Knie. Alanna biss die Zähne zusammen, stand auf, ging weiter, lief gegen einen Baum. Sie stolperte und fiel rückwärts in den Schnee. Voller Angst, der Schnee könnte sie unter sich begraben, wenn sie zu lange liegen blieb, kämpfte sie sich erneut hoch und verfluchte dabei die plumpen Schneeschuhe. Ihr fielen Schimpfworte ein, von denen sie gar nicht gewusst hatte,
dass sie sie noch kannte. Schließlich kam ihr eine Idee. Sie griff nach einem Ast, hackte ihn mit ihrer Axt ab und schuf sich so einen Stock. Miache musste sich nicht mit derartigem Kram herumschlagen, um an das Juwel zu kommen, überlegte sie mürrisch, während sie den Schnee von ihren Schneeschuhen schüttelte und wieder losstapfte. Sie hat es gestohlen! Alanna tastete mit dem Stock vor sich den Boden ab, immer noch direkt in den Wind gestemmt. Stehlen würde ich es nicht, glaube ich. Ich hätte Skrupel. Wenn es bloß ein Menschenfresser oder ein
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