Alanna - Das Lied der Loewin
verletzt?« Ihre verbundenen Hände, auf die sie hinuntersah, zitterten. Er bringt mich immer wieder aus dem Gleichgewicht, dachte sie traurig.
Er griff mit seiner Hand nach ihrem Kinn und drehte ihren Kopf herum, damit er ihr in die Augen sehen konnte. »Versetz dich mal in meine Lage.« Seine Stimme war leise, sein
Gesicht angespannt. »Ich saß hier und überlegte mir, ob du wohl überleben würdest, während sich um mich herum alle über die unterhielten, die schon erfroren waren. Moonlight versuchte die Stalltür einzurennen. Die Pferdeknechte mussten ihr einen Beruhigungstrank verabreichen. Coram – ich möchte nie wieder einen sehen, der so betrunken ist, wie er es war. Thayet und Buri ging es gut. Warum auch nicht? Die hast du behext. Genauso, wie du mich behext hast.«
Darum geht es also, sagte sich Alanna. Ich wusste, was er von Magie hält. Und trotzdem habe ich erlaubt, dass Trusty einen Zauber über ihn legte. Liam wird mir nie mehr vertrauen – und vermutlich hat er ganz recht. Denn wenn ich müsste, würde ich es noch mal tun. »Also ist es aus zwischen uns?«, flüsterte sie.
Er ließ sie los. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, wartete sie. »Ich weiß nicht, Kätzchen.«
Als sie ihren Kosenamen hörte, spürte sie, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Es tut mir wirklich leid. Ich weiß, das nutzt jetzt nichts mehr. Wenn du aufgewacht wärst, hättest du mich nicht gehen lassen.«
Liam nickte. Seine smaragdgrünen Augen verblassten zu einem Blaugrau, das sie noch nie gesehen hatte. »Sieht so aus, als wäre da nichts zu machen, oder was meinst du? Ich kann mir nicht helfen, aber meine Gefühle, was die Gabe betrifft, sind nun mal so. Und du kannst dir auch nicht helfen; du musst sie einfach verwenden – und das sollst du. Wenn man ein Werkzeug besitzt, muss man es benutzen.« Er schwieg, dann schluckte er schwer und fügte hinzu: »Du hast vermutlich gesehen, dass ich meine Sachen in ein anderes Zimmer bringen ließ.«
»Können wir trotzdem Freunde bleiben?«
»Das verspreche ich.« Es gelang ihm nicht, die Erleichterung
in seiner Stimme zu verbergen, was Alanna mehr schmerzte als alles, was er gesagt hatte. Sie zog sich zurück und ging nach oben, um noch einmal um Liam Eisenarm zu weinen.
Zwei Tage später machten sie sich wieder auf den Weg. Alanna war das Gefühl nicht losgeworden, dass sie nach Hause musste, und ihre Freunde hatten sich von ihr anstecken lassen. Fast das gesamte Personal vom Gasthof schien es zu bedauern, dass sie aufbrachen, wenn auch einige – unter anderem der Stalljunge – mit der Furcht und Respekt ausdrückenden Geste der Doi ihre Augen verbargen, als sie vorübergingen. Alanna warf dem Jungen als Ausgleich für den Schrecken, den sie ihm mit ihrem Schlafzauber eingejagt hatte, einen Goldnobel zu, doch er ließ ihn mit einem Aufschrei fallen und weigerte sich ihn anzurühren, bis ihn ein Hausmädchen aufhob.
Unterwegs machte Alanna Halt für einen letzten Blick zum Chitral-Pass. Die plötzlich frühlingshaften Temperaturen, die seit ihrem Abenteuer herrschten, hatten den Schnee fast weggetaut. Von den Felswänden der umliegenden Berge leuchtete es grün. Eine Gruppe Fallensteller war unterwegs auf den Chitral, eine weitere kam den Lumuhu-Pass herunter. Alanna fragte sich, ob Chitral sie beobachtete, und winkte hinauf für den Fall, dass er es tat.
An diesem Abend stiegen sie in einem Gasthof ab, in dem sie schon auf dem Weg nach Norden übernachtet hatten. Während man sie zuvor behandelt hatte wie alle anderen Reisenden auch, galten sie nun als Ehrengäste. Die Nachricht von Alannas Heldentaten und dem Juwel hatte rasch die Runde gemacht und das Personal ließ erkennen, dass es
bereit war, Alanna und ihren Freunden jeglichen Dienst zu erweisen. Zuerst weigerte sich der Gastwirt eine Bezahlung anzunehmen, stellte dann aber fest, dass der Shang-Drache sehr stur sein konnte. In der Herberge, wo sie auf ihrer Reise nach Süden die zweite Nacht verbrachten, war es genauso.
Als sich der dritte Tagesritt dem Ende zuneigte, dachte Alanna sehnsüchtig an ein Lager unter freiem Himmel. Kühl würde es sein, so wie überall nachts in den Bergen, aber zumindest wären sie unter sich, was so gut wie unmöglich war, wenn es im nächsten Gasthaus genauso zuging wie in den vorherigen. Da aber ihre Hände immer noch nicht verheilt waren, mochte Alanna nichts sagen, denn wenn sie im Freien lagerten, würden die anderen ihre Arbeit übernehmen müssen.
Buri
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