Alanna - Das Lied der Loewin
selbst inzwischen Fruchtsaft ein.
Raoul zu sehen war fast ebenso schön wie nach Hause zu kommen. Während ihrer Zeit im Palast waren Alannas engste Freunde Raoul, Gary, Jonathan und manchmal Alex, Alexander von Tirragen, gewesen, alle älter als sie. Solange sie Page war, waren ihre Freunde Knappen, später, als sie Knappe wurde, waren die anderen schon Ritter. Sie hatten ihr die Palastsitten beigebracht und sie an allem teilhaben lassen, ob sie Abenteuer erlebten oder in der Klemme saßen. Sie selbst hatte alle außer Alex Georg Cooper vorgestellt und die Freunde hatten ihr Ratschläge gegeben und immer auf sie aufgepasst.
»Was machst du hier?«, fiel ihr schließlich ein zu fragen. »Als ich das letzte Mal von dir hörte, warst du damit beschäftigt, Wüstenpatrouillen zu reiten.« Ihr Blick fiel auf seine dunkle Haut und den Burnus, den er über den Schultern trug, und sie fügte hinzu: »Ich sehe, die Wüste ist dir gut bekommen. Magst du die Bazhir?«
»Sie haben mich adoptiert«, erzählte er strahlend. »Nicht deine Blutigen Falken, sondern die Sandläufer.« Das war ein Stamm, der viel weiter südlich lebte als der Alannas. »Ich mag sie sehr. Sie verlangen nur, dass ein Mann reitet und kämpft und seinen Teil der Arbeit erledigt – man muss keinem, den man nicht leiden kann, irgendwelche Komplimente machen und all den anderen Kram.«
Alanna lachte. Knappe Alan und Ritter Raoul waren bekannt dafür gewesen, dass sie für gesellschaftliche Pflichten nichts übrig hatten. »Und was bringt dich jetzt hierher?«, erkundigte sie sich. »Gehört dieses Kurierschiff dir? Sag bloß
nicht, du bist Diplomat geworden.« Sie setzte sich aufs Bett. Raoul machte plötzlich ein ernstes Gesicht. Irre ich mich, dachte sie, oder sieht er müder aus als je zuvor?
Raoul schaute auf den Becher in seinen Händen. »Noch bin ich kein Botschafter. Als Myles deinen Brief aus Jirokan erhielt – den, in dem du schriebst, du kommst auf deiner Rückreise vom Dach der Welt möglicherweise hierher –, da sagte er Jon Bescheid und der hat mich geschickt, um dich heimzubringen. Er hat außerdem überall an der Großen Straße Boten platziert, falls du es dir anders überlegt und jenen Weg für deine Heimreise gewählt hättest.« Trusty setzte sich neben Alanna, die langsam unruhig wurde. »Ich wusste nicht, dass Jon befugt ist derartige Befehle zu erteilen«, sagte sie nervös. »Ich dachte, nur der König könne diplomatische Schiffe aussenden.«
»Stimmt. Jon ...« Raoul brach ab. Er machte ein unglückliches Gesicht. »Schau, Alan – nein, ich wollte sagen, Alanna ...«
»König Roald ist tot? «
Raoul nickte. »Aber lass es mich von vorn erzählen. Ich will nichts auslassen.« Alanna nickte bestürzt. »Weißt du, ungefähr zum März-Neumond starb die Königin. Keiner war überrascht, jedenfalls nicht sehr. Schon seit der Schwitzfieberkrankheit war sie ziemlich schwächlich – das weißt du ja. Dann versuchte Roger sie mit seinem nach ihrem Abbild gemachten Figürchen zu töten. Thom hat das Figürchen zerstört, als du fort warst, damit es ihr nicht schadete. Aber es war schon zu spät. Es war nur eine Frage der Zeit. Dann, mit dem schlimmen Winter und allem, was sonst noch passierte ...« Er seufzte. »Myles und Thom sagten, du seist gerade in Berat gewesen, als sie starb.«
»Ich hab ihnen von dort aus geschrieben. Dunkelgott,
schenk ihr Frieden«, murmelte Alanna. Wenn sie an den Hof dachte, war Königin Lianne immer ein Teil davon, selbst dann, wenn sie sich den in vager Zukunft liegenden Tag vorstellte, an dem Jon König werden würde.
Raoul reichte Alanna sein Taschentuch und fuhr fort: »Der König ist nie darüber hinweggekommen – du weißt ja, wie es war mit den beiden.« Alanna musste ein wenig lächeln: Die Liebe des Königspaars war für jeden, der Augen und Ohren hatte, offensichtlich gewesen. »Es war ungefähr drei Wochen später, fast Anfang April. Er ging auf Jagd und wurde vom Rest der Gruppe getrennt. Als sie ihn fanden, war er tot – ein Unfall. Es sah aus, als habe er einen Sprung versucht – erinnerst du dich noch an diese enge Schlucht, etwa eine halbe Wegstunde über den Weidenfällen?«
»Natürlich.« Sie war viele Male über diese Schlucht gesprungen. Sie war sehr tief und für einen Sprung darüber brauchte man Geschicklichkeit und hervorragende Reflexe. Sie flüsterte: »Also ist Jon König.«
»Noch nicht offiziell. Die Krönung soll am Tag des Juli-Vollmonds stattfinden.
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