Alanna - Das Lied der Loewin
Unterschrift.«
Jonathan gehorchte und versah das königliche Siegel auf mehreren Dokumenten mit seinem Namen. »Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, als Herrscher von Tortall zu unterschreiben. Ich hatte damit gerechnet, erst in vielen Jahren König zu werden.« Er schluckte schwer. Gary schwieg voller Anteilnahme. Nach einem kleinen Weilchen fuhr der zukünftige König fort: »Jetzt komme ich mir so hilflos vor. Ich hätte irgendetwas unternehmen sollen, damit sie am Leben bleiben.«
»Was denn?«, fragte Gary. »Tante Lianne hat sich nie mehr richtig erholt, selbst nachdem Rogers Zauber gebrochen war. Und der König ...« Er brach ab, denn an diese offene Wunde wollte er nicht rühren.
»Der hat sich umgebracht«, flüsterte Jon, der sich immer zwang, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Gary war einer
der wenigen, die wussten, dass der König tatsächlich Selbstmord begangen hatte. »Wie konnte er das bloß tun?«
»Er hat sie geliebt«, sagte Gary leise.
Jonathan schüttelte den Kopf. »Könnte ich irgendjemanden so lieben, dass ich vergäße, dass meine erste Pflicht meinem Volk gilt? Georg sagt, in der Unterstadt könne man die Furcht richtig spüren. Ich kann den Leuten keinen Vorwurf machen, wenn sie denken, dass ein Fluch über uns liegt – erst die Hungersnot im vergangenen Winter und jetzt noch das. Und was soll ich ihnen erzählen, damit sie mir Vertrauen schenken? Sie kennen mich nicht – genauso wenig, wie sie meinen Vater richtig kannten.« Damit gab er seinem Vetter die Dokumente zurück. »Wenn sich die Dinge ein wenig beruhigt haben, werde ich durch Tortall reisen, und zwar bis in die hintersten Winkel. Ich will kein König sein, der in seinem Palast sitzt und wartet, bis die Leute zu ihm kommen«, sagte er. Seine Miene war unbewegt und störrisch. »Ich hoffe, dass uns Alanna tatsächlich das Juwel der Macht bringen wird.«
»Meinst du, die Boten werden sie finden?«, erkundigte sich Gary. Außer Raoul waren noch weitere Männer an den Straßen postiert, die nach Osten führten.
»Irgendeiner wird sie finden. Irgendeiner muss sie finden.«
Während sich Jonathan und Gary unterhielten, betrat Georg Cooper das Haus seiner Mutter. Eine Nachricht aus Corus hatte ihn im Galopp von Caynnhafen hierher nach Hause gebracht. Kralle, entnervt durch seine monatelangen vergeblichen Versuche Georg umzubringen, hatte etwas Undenkbares getan und eine Außenstehende – Eleni Cooper – angegriffen. Männer und Frauen, die Georg treu ergeben waren, hatten Kralles Männer abgewehrt, und nun glich das Haus
von Eleni Cooper einem Heerlager, einschließlich Wachtposten.
Eleni sortierte und verpackte gerade die Kräuter, die sie als Heilerin verwendete, als ihr Sohn die Küche betrat. Töpfe mit Arzneien brodelten auf der Feuerstelle und verströmten Kräuterduft im ganzen Raum.
»Es hätte schlimmer sein können«, erklärte sie Georg. »Keiner deiner Leute wurde getötet, und mir ist nichts passiert.«
Georg machte ein finsteres Gesicht. »Diesmal , Mutter. Was ist mit dem nächsten und dem übernächsten Mal? Kralle hat eine Frau angegriffen, die sich nicht dem Schurkenring verschworen hat. Wenn er dieses Gesetz übertritt, wird er auch keines unserer anderen einhalten. Wer zu Schaden kommt, kümmert ihn nicht. Und es kümmert ihn auch nicht, ob der Oberste Richter seine Soldaten schickt, um die Stadt von uns allen samt unseren Zwistigkeiten zu säubern. Nicht mal für diejenigen, die er selbst besticht oder zur Gefolgschaft zwingt, steht Kralle ein. Wenn sie auf dem Galgenhügel enden, wird er keinen Finger rühren, um sie zu retten. Er will Schurkenkönig sein, aber er sorgt nicht für die, die sich ihm verschworen haben, so wie es seine Pflicht wäre.« Georg nahm die Tasse Kräutertee entgegen, die ihm seine Mutter einschenkte, und trank in kleinen Schlucken, ohne zu merken, was er überhaupt zu sich nahm. »Wir waren immer darauf bedacht, nie so viele Scherereien zu machen, dass der Oberste Richter sich entschließen könnte die Unterstadt von uns zu befreien.«
»Du wirst schon eine Möglichkeit finden mit diesem Kralle fertig zu werden«, sagte Eleni, während sie ein Paket Beinwellblätter mit einem Etikett versah. »Ich hab bisher noch nie erlebt, dass du dich geschlagen gibst, Georg.«
»Manchmal fange sogar ich an den Gerüchten zu glauben«, flüsterte Georg, der müde aussah. »Machen wir uns doch nichts vor, Mutter – ein Mann, der getötet wurde, sollte tot
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