Alanna - Das Lied der Loewin
ein Diener den Ritter beim Mittagessen unterbrach, um ihm zu sagen, ein gewisser Dalil al Marganit erwarte ihn in der Bibliothek. Myles legte sein Messer weg und wischte sich rasch mit einer Serviette übers Gesicht. Al Marganit war es, den er beauftragt hatte herauszufinden, wer Kralle eigentlich war. Myles hatte den kleinen sirajitischen Agenten schon früher in Anspruch genommen und konnte sich darauf verlassen, dass er alles ausgraben würde, was es über Kralle zu erfahren gab. Als Myles die Bibliothek betrat, erhob sich der Agent und machte eine Verbeugung. Er deutete auf die Fruchtschale und den Wein aus Tyra, die ihm die Bediensteten schon gebracht hatten, und sagte: »In Eurem Haus werde ich behandelt wie ein Edler.«
Myles setzte sich mit einem Lächeln hinter seinen Schreibtisch. »Du verdienst so eine Behandlung, Dalil. Setz dich bitte. Was hast du für mich in Erfahrung bringen können?«
Der kleine Mann holte ein Notizbuch aus seinem Waffenrock und blätterte einige verschmierte Seiten um. Kurzsichtig, wie er war, musste er sie so nah vor die Augen halten, dass sie ihn an der Nase kitzelten. Er nieste. »Also – was diesen Dieb Kralle betrifft: Er wurde vor zwei Jahren von den Männern des Obersten Richters verhaftet. Verdacht auf Raubüberfall. Auf Grund mangelnder Beweise ließ man ihn
wieder laufen. Unser Richter ist gewissenhaft in derartigen Dingen, ganz im Gegensatz zu vielen anderen – wie Euer Ehren ja wissen. Vor fünf Monaten wurde er bei den Hafenkrawallen erneut verhaftet, konnte jedoch fliehen. Gegenwärtig wird er von den Leuten des Richters gesucht, aber sie suchen nicht allzu gründlich; es wird angenommen, dass er hohe Bestechungsgelder bezahlt hat.
Ich ging der Spur nach, die nach Vedis in Galla führt, denn Kralle behauptete ja, dass er von dort sei. Aber weder in Vedis noch in Nenet noch Jyotis, alles gallianische Städte mit jeweils großen Schurkenringen, ist er bekannt. Also hielt ich mich an Eure Vermutung, dass er im Tonfall der Leute vom Tortaller Seengebiet spricht und von edler Abstammung sein muss, und reiste mit einer guten Zeichnung des Mannes ins Seengebiet. Hier ist die Liste meiner Ausgaben.« Er reichte Myles ein Blatt Papier, doch der Ritter warf kaum einen Blick darauf.
Al Marganit klappte sein Notizbuch zu und sah Myles an. »In Wirklichkeit heißt Kralle Ralon von Malven ...«
Myles wurde blass. Ein weiterer Feind von Alanna! Seit Jahren hatte ihn keiner gesehen oder von ihm gehört. Zwar hatte Myles angenommen, Kralle könne der unehelich geborene Sohn eines Edlen sein und eine entsprechende Erziehung genossen haben. Aber dass er sich als legitimer Spross einer adligen Familie am Schurkenhof verbarg, wäre ihm nie in den Sinn gekommen! Er spürte den besorgten Blick des Agenten, zwang sich zu einem Lächeln und sagte: »Schon gut. Fahr fort.«
Achselzuckend sprach der kleine Mann weiter. Offensichtlich wollte ihm Sir Myles nicht sagen, warum er aussah, als sei er gerade einem Geist begegnet. »Er ist der dritte Sohn
von Viljo, Graf von Malven, und dessen Gattin Gaylyah. Sie haben ihn enterbt, nachdem er versucht hatte die zweite Tochter des Gutsverwalters von Anala, einem Dorf, das zu Eldorn gehört, zu vergewaltigen. Eldorn ist also Malvens Nachbar.«
Eine verbindung zwischen Kralle und Delia? , überlegte Myles. Er kritzelte eine Notiz nieder, während Dalil fortfuhr: »Eine Kinderfrau des Mädchens schüttete ihm Säure ins Gesicht. Sie ist für die violettfarbenen Narben verantwortlich, von denen Ihr spracht, und für den Verlust eines Auges. Wenn es mir gestattet ist, Eure Erinnerung aufzufrischen – Ralon von Malven musste im Alter von vierzehn den Hof verlassen. Herzog Gareth der Ältere ersuchte darum, und zwar als disziplinarische Maßnahme in der Angelegenheit des Pagen Alan von Trebond. Oder, wenn Ihr mir meine Unverfrorenheit verzeihen wollt, in der Angelegenheit von Alanna von Trebond und Olau.«
Myles lächelte geistesabwesend. »Obwohl damals nur verdammt wenige von uns wussten, dass sich eine Alanna hinter diesem Alan verbarg. Ralon von Malven! Wie konnte ich den nur vergessen?«
»Er trägt eine gute Verkleidung, mein Herr. Er kam, wie so mancher üble Kerl, um sich einen Namen unter den Schurken zu machen. Er will dem gegenwärtigen König der Diebe den Thron streitig machen, doch er fordert ihn nicht zum offenen Kampf, wie es der Brauch will – sein Mittel ist der Verrat. Ganz anders als der oberste Schurke heuert Ralon alias
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