Alanna - Das Lied der Loewin
Scheide, während der Fleck an Größe und Substanz zunahm.
»Leg das Ding weg«, befahl eine bekannte Stimme. »Ich hab dir doch nichts getan.«
»Thom?«
Selbst als er endgültig Gestalt angenommen hatte, ging immer noch ein so starkes Leuchten von ihm aus, dass sie seine Gesichtszüge erkennen konnte. Er verkreuzte die Arme vor der Brust und zog eine Augenbraue hoch. »Besitzt du denn keine Nachthemden?« Liam hatte ihr nur die Stiefel und die Socken ausgezogen.
Alanna umarmte ihren Zwillingsbruder. Thom drückte sie ebenso fest wie sie ihn. Dabei verbarg er sein heißes Gesicht an ihrer Schulter.
»Thom, was ist los mit dir? Hast du Fieber?«, fragte Alanna mit stockender Stimme. »Du... du glühst ja ...«
Er packte sie an den Schultern. »Beruhige dich! Die Hitze gehört dazu, also mach dir keine Sorgen.« Er berührte die Krähenfüße an ihren Augenwinkeln, fuhr mit dem Finger der harten Linie nach, die ihre Wangenknochen formte, glättete die feine Falte, die ihren Mund rahmte. Auch in sein Gesicht hatten sich Linien eingegraben, die vorher nicht da gewesen waren, und er war sogar noch dünner als sie. Er sah erschöpft aus – zu Tode erschöpft. Instinktiv fasste sie nach dem Glutstein an ihrer Kehle.
Mit Hilfe ihres Talismans sah sie, dass Thom ein rostrotes Feuer verstrahlte. Es hatte die Farbe von eingetrocknetem Blut. »Wie sehe ich aus?«, flüsterte er, denn wozu der Glutstein fähig war, wusste er ja.
Sie versuchte zu lächeln. »Besser, du weißt es nicht.« Sie schluckte, dann fügte sie hinzu: »Es ist, als hättest du eine andere Zaubergabe oder als wäre die deine ...«
»Verdorben«, beendete Thom ihren Satz. »Genug. Wir können uns ein andermal darüber unterhalten, wie es uns so ergangen ist. Du siehst aus, als wärst du völlig erledigt.« Er strich mit bebender Hand über ihr Haar. »Ich wollte dich nur anschauen und erfahren, ob du mir vergibst.«
»Da ist nichts zu vergeben«, antwortete sie. »Du hast mir sogar einen Gefallen getan. Jetzt kann ich mit ihm reden, kann mich selbst davon überzeugen, ob ich einen Fehler machte, als ich – du weißt schon. Ob er sich irgendwie hätte reinwaschen können.«
»Viel Spaß«, spottete Thom. »Also, ich glaube, du hättest es auch überlebt, wenn er in seinem Grab geblieben wäre.«
»Ich meine es ehrlich«, protestierte sie.
»Geh wieder ins Bett, ja?« Er begann zu verblassen. »Ruh dich aus.« Er verschwand.
Sie starrte auf den Fleck, wo er gestanden hatte. Weiß sonst irgendjemand, dass Thom sterben wird? Hätten sie mich nicht warnen können? Aber wovor hätten sie mich warnen sollen – außer davor, dass er im Dunkeln leuchtet?
Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie schniefte. Ob Myles wohl noch auf war? Barfuß schlich sie hinaus zu Myles’ Lieblingszimmer, der Bibliothek. Die Tür stand offen. Da sie nicht in irgendein privates Treffen platzen wollte, blieb sie im Flur stehen.
»Ich konnte nicht früher weg.« Die tiefe Stimme gehörte Jonathan. »Feste finden zur Zeit ja keine statt, weil wir in Trauer sind, aber diese ›ruhigen Geselligkeiten‹ dauern trotzdem stundenlang.«
»Du hättest warten sollen.« Das war Georg mit seinem singenden Tonfall. »Sie ist in ihrem Sessel eingeschlafen, das arme Ding. Sie ist völlig erledigt, genau wie die anderen auch.«
»Dabei wird meine Ritterin auch hier wenig Ruhe finden«, seufzte Jonathan.
»Weiß er, dass sie zurück ist?«
»Er weiß es. Aber ich – was?«
Georg ging mit schnellen Schritten zur Tür und sah Alanna. Er verbeugte sich vor ihr und deutete auf die Bibliothek. Dann schob er sie hinein, schloss die Tür und ließ sie mit Jon allein.
Er stand mit Trusty auf den Armen vor dem Feuer. Sie
hatte vergessen, dass er einen Kopf größer war als sie. Seine schwarze Kleidung unterstrich seine saphirblauen Augen noch; sein Oberlippenbart und sein Haar waren dunkler als der Waffenrock aus Samt. Sie betrachtete seinen schön geschnittenen Mund und die gerade Nase und dachte: Jon ist immer noch der bestaussehende Mann, dem ich jemals begegnet bin – einschließlich Roger! Seit ihrer Trennung im Streit hatte er sich verändert: Sein Gesicht hatte etwas Entschlossenes und eine Ernsthaftigkeit, die ihr gefiel. Es tut ihm gut, die Stimme zu sein, sagte sie sich. Jetzt mimt er nicht mehr wie letztes Jahr in der Wüste den »stolzen Edlen«.
Bewegt sank sie auf die Knie und senkte den Kopf. »Mein Oberherr, ich stehe dir zur Verfügung.«
Er legte die Hand
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