Alanna - Das Lied der Loewin
Si-cham!«, rief Alanna und sprang auf. Der winzige alte Mann in den orangefarbenen Gewändern des Mithran-Meisters lächelte und hielt ihr seine knotigen Hände hin, die sie küsste.
»Und Liam Eisenarm«, sagte er und nickte dem Drachen, der sich verbeugte, vergnügt zu. »Zwei gewaltige Krieger zieren dein Haus, Myles!«
Alanna ließ den Blick von Si-cham zu Liam und ihrem Adoptivvater wandern. »Ihr kennt Liam?«, fragte sie. Der rothaarige Mann zwinkerte. »Und Myles auch?«
»Als ich noch jünger war, ging ich häufiger auf Reisen«, erklärte Myles. »Si-cham, setz dich. Georg, dank dir, dass du ihn brachtest – wo war er?«
»Einige junge Rüpel hatten ihn am Wassertor in die Enge getrieben. Die betrunkenen Idioten wollten, dass er für die Göttin tanzt«, sagte der Dieb, während er dem Mithran-Priester Tee eingoss. »Es gibt keinen Respekt mehr für alte Männer.«
»Zu meinen Zeiten habe ich tatsächlich für die Göttin getanzt«, gab Si-cham mit einem Lächeln zu. »Aber nicht nach einer solchen Reise.« Er trank seinen Tee. »Es tut mir leid, dass es so lange dauerte, bis ich deiner Aufforderung nachkommen konnte, Georg Cooper. Als sie in der Stadt der Götter begriffen, dass ich wirklich fortwollte, gab es noch Tausende von Dingen für mich zu klären. Außerdem komme ich nicht mehr so schnell voran wie früher. Ich musste mich in einer Sänfte tragen lassen – ein trauriger Abstieg, wo ich doch so ein guter Reiter war.«
»Warum seid Ihr überhaupt her?«, wollte Alanna wissen. Si-cham stellte sein Glas weg. Er sah müde aus. »Georg teilte mir mit, dass dein Bruder krank ist – vielleicht sogar schwer krank. Er hat mich gebeten zu kommen, um Meister Thom zu helfen.«
»Jetzt müssen wir nur noch Thom davon überzeugen, dass er Hilfe braucht«, sagte Georg mit einem Seufzer.
Zuerst weigerte sich Thom, auch nur in Betracht zu ziehen, dass er mit seinem früheren Meister sprechen könnte. Der Wutanfall, den er bekam, als er erfuhr, warum Si-cham
in der Stadt war, machte Alanna Angst. Nicht so sehr, weil sie seinen Zorn fürchtete, sondern weil sie den verzweifelten und ängstlichen Ton in seiner Stimme hörte, als er sie anschrie. Jetzt stand für sie endgültig fest, dass Si-cham ihren Zwillingsbruder unbedingt treffen musste. Thom sah inzwischen fast aus wie ein Skelett, seine Haut war trocken und rissig von der Hitze, die ihn von innen heraus verzehrte.
Einige Wochen vor der Krönung gab ihr Bruder nach. Sogar Roger wurde untersagt an dem Treffen teilzunehmen, ein Verbot, dem er sich freundlich fügte. Als Thom und Si-cham das Personal anwiesen, ihr Essen in Thoms Gemächern zu servieren, gab Alanna es auf, im Palast zu warten, ob man sie rief. Sie würden nach ihr schicken lassen, wenn man sie brauchte.
In den Tagen, die bis zur Krönung noch verblieben, hatte sie noch vieles zu erledigen. Sie ging zu den Palastschreibern und ließ ein neues Testament aufsetzen; das letzte stammte aus der Zeit vor ihrer Ritterprüfung. Die Schreiber wurden unruhig, als sie mit ihrem Vorhaben ankam, da doch ihr Tod das Letzte war, woran sie hätte denken sollen. Aber sie wurde das unbehagliche Gefühl nicht los, das sie packte, sobald sie an die Krönung dachte. Sie wollte nichts dem Zufall überlassen – für alle Fälle. Dann brachte sie ihre goldene Rüstung zum Polieren und ihr Schwert zum Schärfen. Obwohl beides nicht nach dieser zusätzlichen Pflege verlangte, war ihr wohler, als es erledigt war. Als der Frisör kam, um Elenis Haar für das Fest zu schneiden und zu frisieren, bat ihn Alanna, auch ihr Haar zu kürzen. Alle außer Georg und Buri stießen einen Schrei aus, als sie die Ritterin sahen: Die kupferroten Locken, die ihr bis über die Schultern gefallen waren, reichten jetzt nur noch bis zu den Ohrläppchen. So
kurz hatte sie die Haare in ihrer Knappenzeit getragen. Sie tat den Protest mit einem Achselzucken ab. »Ich hatte sie ständig in den Augen«, erklärte sie.
Schließlich, vier Tage nachdem sich Thom und Si-cham miteinander zurückgezogen hatten, kam einer der Diener vom Palast, um Alanna zu ihrem Bruder zu bitten. Unterwegs überlegte sie sich, was für eine Überraschung die beiden Zauberer wohl für sie bereithielten.
Thom ging auf und ab, als sie kam und mit einem dankbaren Lächeln in einen Sessel sank. »Eine Gluthitze draußen«, sagte sie. Genau wie in dir drin, fügte sie insgeheim hinzu. Ihr fiel auf, dass seine Haut sich schälte und seine Lippen bluteten.
Thom
Weitere Kostenlose Bücher