Alanna - Das Lied der Loewin
so was Ähnliches gedacht, hatte den Gedanken aber als unmöglich abgetan.
Plötzlich veränderte sich das Licht. Das Juwel der Macht tanzte vor ihren Augen. Es sah so wirklich aus, dass sie den Beutel an ihrer Taille berühren musste, um sich zu überzeugen, dass es noch dort war. Sie starrte die Erscheinung an, dabei fragte sie sich, ob es ein Blick in die Zukunft war oder etwas, was das Juwel selber tat. Das falsche Kleinod schimmerte, wuchs und kam näher, bis sie nichts anderes mehr sah. Darin war ein Bild: In der Mitte des Prüfungsraumes lag Roger auf einem Steinblock. Er stand auf und breitete die Arme aus: »Komm, Geliebte«, flüsterte er.
Man hatte ihr gesagt, sie dürfe weder reden noch schreien. Nun presste sie fest die Zähne zusammen, um ihren Wutschrei zu unterdrücken. Sie konnte sich nicht rühren. Roger kam näher. Sie biss sich in die Backe, um keinen Ton von sich zu geben. Metallisch schmeckendes Blut sammelte sich in ihrem Mund.
Sie war in seinen Armen, sie tanzten, sein Gesicht leuchtete vor Liebe und vor Zorn und in seinen saphirblauen Augen lag der Wahnsinn. »Wir tanzen, bis alles zu Ende ist, mein Liebling, mein Herz«, sagte er leise in einem seltsamen Singsang. »versprich mir, dass mir für immer und ewig tanzen werden.«
Sie schüttelte den Kopf und kämpfte wild, um sich aus seinem Griff zu lösen, riss den Mund auf, machte ihn wieder zu.
Es war verboten, im Prüfungsraum zu schreien!
Jetzt war sie wieder in der Kapelle. Die Hände hatte sie fest vor den Mund gepresst. Glücklicherweise war Jonathan in eine Art Trance versunken und sah nicht, wie eigenartig sie sich benahm. Langsam ließ sie ihre Hände sinken. Sie zitterte. Was würde der heutige Tag wohl bringen?
Als die ersten Sonnenstrahlen durch die hohen Fenster der Kapelle fielen, kamen die Priester. Immer noch in Trance erhob sich Jonathan, um mit ihnen zu gehen. Behutsam führten sie ihn zum Prüfungsraum und hinein. Alanna zupfte an ihren Ohrringen und versuchte, an gar nichts zu denken.
Als die Tür eine Viertelstunde später aufging, war sie die Erste, die nach seiner Hand griff, so wie er vor langer Zeit nach ihrer gegriffen hatte. Er lächelte sie müde an und murmelte : »Nicht schlecht – wenn man Prüfungen mag.« Alanna verkniff sich ein Grinsen. Gary kam und nahm Jonathans anderen Arm, dann führten sie ihn zu seinen Zimmern, wo er noch einige Stunden ausruhen konnte. Mit einem müden Winken verabschiedete sich Alanna von Gary und ging zu dem nahe liegenden Raum, den man für sie hergerichtet hatte. Ihr letzter Blick, bevor sie erschöpft einschlief, fiel auf ihre vergoldete Rüstung, die in der Ecke auf einem Gestell schimmerte.
In seinen Räumlichkeiten war Alexander von Tirragen damit beschäftigt, sein Schwert zu schärfen. Er war schwarz gekleidet und trug Reithosen, denn er hatte nicht vor, an der Krönung teilzunehmen. Er überprüfte die Schneide seiner Waffe und lächelte.
Delia von Eldorn stand vor dem Spiegel und machte sich an ihrem Haar zu schaffen. Im Gegensatz zu Alex trug sie großen Hofstaat. Das smaragdgrüne Seidenkleid mit den gestärkten Röcken raschelte, während sie sich den letzten Schönheitskorrekturen widmete.
»Bist du denn kein bisschen nervös?«, fragte sie und ordnete ihren Haarschmuck.
»Wieso denn?«, war die gelassene Antwort. »Er hat an alles gedacht.«
»Was ist, wenn Josiane Erfolg hat?«
Alex lachte leise in sich hinein. »Delia, hast du kein Vertrauen zu unserem Kämpen? Sie und ich, wir haben heute eine Verabredung, auch wenn sie es nicht weiß.« Mit verträumtem Blick hielt er das Schwert hoch. »Sie wird sich nicht von einer Wahnsinnigen wie Josiane davon abhalten lassen, zu mir zu kommen.«
Knappe Henrim klopfte und trat ein. »Lord Alexander, ich habe die bewaffneten Krieger in die hinteren Korridore beim Saal der Kronen gelassen. Sie halten sich in den Lagerräumen verborgen. Hauptmann Chesli sagt, die Männer von Eldorn seien im Saal selbst verteilt, in der Menge.« Er verbeugte sich vor Delia, und sie lächelte.
Alex erhob sich und steckte sein Schwert in die Scheide. »Du gehst zu den Männern in dem Geschoss, wo die Verliese sind. Aber vorher erinnerst du beide Hauptleute daran, dass sie erst handeln dürfen, wenn das Signal gegeben wird,
und zwar nachdem die Krone auf Jonathans Kopf ruht. Nach der Krönung, kapiert?«
Der Knappe zögerte. »Aber – dann ist er ja schon mit dem Land verbunden. Er wird Tortalls Zauberkraft benutzen, um
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