Alanna - Das Lied der Loewin
halfen ihr weiter. Sie sah in Georgs Augen hinauf. Er war als einer der Leibgardisten des Königs verkleidet.
»Was ist los?«, fragte er, während sie mit großen Schritten in den zweiten Stock des Palasts eilten.
»Thom«, flüsterte sie. »Er wird angegriffen. Das Erdbeben beruht auf Magie. Es hat die Farbe von Thoms Gabe, blutrot ...«
»Blutrot? Aber seine Gabe ist violett, wie die ...«
»Sie ist verdorben«, japste sie, während sie durch den Korridor liefen, der zu Thoms Gemächern führte. »Sie hat jetzt die Farbe von Blut.«
»Wie sieht eine Mischung von Violett und Orange aus?«, fragte Georg, als sie stehen blieben. »Rogers Gabe und die Gabe derer von Trebond?«
Jetzt war Alanna noch elender zumute.
Die Luft in Thoms Salon war so schwer, dass sie fast greifbar schien; das Licht war grünlich gelb. Alanna erstarrte.
»Was ist, Kleines?«, flüsterte Georg angespannt. Wie sie spürte er etwas Bedrohliches.
»Das Juwel!«, rief sie, fingerte an ihrer Taille herum, nahm den Beutel vom Gürtel und presste ihm das Kleinod in die Hände. »Du musst es Jon bringen. Was hab ich mir bloß dabei gedacht, es von ihm wegzutragen? Bitte, Georg!«
Der Beutel verlor sich fast in seinen großen Händen. »Alanna, ich kann dich doch nicht allein lassen hier ...«
»Du musst!«, rief sie. »Ich kann das Juwel nicht benutzen – Jon schon. Und ich habe das Gefühl, dass er es brauchen wird!«
Georg zögerte, als ein zweiter Erdstoß den Boden unter ihren Füßen zum Wanken brachte. Es war so schnell vorüber, wie es begonnen hatte. Mit finsterer Miene steckte Georg den Beutel vorn in seinen Waffenrock. »Ich werde es Jon bringen, keine Sorge.« Dann küsste er Alanna kurz und stürmisch und lief zum Saal der Kronen.
Myles sah, wie Alanna davonlief. Er schützte seinen Kopf, als sich von den Deckenbögen Kacheln lösten und im Hauptgang zerschellten. Jonathan strahlte jetzt weißes und blaues Licht aus und war nicht mehr zu sehen hinter dem Feuer seiner eigenen Gabe und dem der Krone. Vor den Türen, die aus dem Saal in den Palast führten, ebenso wie vor den großen Türen zur Stadt drängten sich so viele Menschen, dass keiner mehr vor oder zurück konnte. Eleni erhob sich leichenblass. »Nicht das Land«, flüsterte sie. »Nicht die Erde selbst!«
Buris wachsamem Blick entging die Bewegung am hinteren Ende des Saals nicht, wo ein Mann gerade seinen Umhang abwarf. Darunter kam die violette und schwarze Livree eines Edlen zum Vorschein, dazu eine kurze Armbrust. Als er die Waffe hochriss und auf Jonathan zielte, zog Buri einen Wurfspieß aus dem Gürtel und tötete ihn. »Ein Anschlag!«, schrie sie Myles zu. »Warnt den König!«
Myles saß beim Hauptgang. Trotz seiner rundlichen Statur war er innerhalb von Sekunden schon fast beim Altar. Sein warnender Schrei ließ beide Gareths und den Obersten Richter zu Jonathan eilen, und zusammen mit Raoul bildeten sie sofort einen schützenden Ring um den König. Die Leibgarde teilte sich in zwei Trupps auf, der eine schloss einen zweiten Ring um König und Edle, der andere verteilte sich in der Menge, um die Feinde zu attackieren. Beide Ringe öffneten sich, um Myles zum König durchzulassen.
»Myles?«, keuchte Jon durch das Zauberlicht, das ihn verdeckte. »Was ist los?«
»Männer in den Farben von Eldorn und Tirragen greifen jeden an, der sich zur Wehr setzen könnte«, erklärte Myles finster. »Und sie versuchen, dich zu ermorden. Wo kommen die Erdstöße her?«
Jonathan schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht. So bald wie möglich werde ich versuchen, es herauszufinden. Wo ist Alanna?«
»Weg«, erwiderte der ältere Mann. »Irgendwas hat sie fortgerufen. Georg lief hinterher und Coram folgte.«
»Sie hat das Juwel«, flüsterte der König.
»Und wo ist Meister Si-cham?«
Das hätte auch Myles gern gewusst.
In Thoms Gemächern überkam Alanna eine plötzliche Schwäche. Es war, als zerrte jemand an ihrer Gabe und sauge sie aus ihr heraus. Sie nahm ihr ganze Kraft zusammen und verschloss ihm, wer es auch immer sein mochte, ihr Innerstes. Dann zwang sie sich vorwärts und machte sich weiter auf die Suche nach ihrem Zwillingsbruder.
Er war im Schlafzimmer. So unangenehm die Luft im Salon gewesen war, hier war sie noch schlimmer. Sie lag wie ein Gewicht auf ihrer Lunge. Hastig untersuchte sie Thom. Sein Puls schlug flach und schnell, und er war kühl, beängstigend kühl, nachdem er seit Wochen viel zu heiß gewesen war. Als sie nach ihrem
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