Alantua
Feuer gewesen sein“, vermutete nun auch Lir.
„Steine brennen doch sonst nicht.“
Vor
ihnen eröffnete sich bald ein großer Platz und der Blick
auf einen imposanten Tempel, dessen weißes Gestein in der Sonne
glitzerte. Gerüste waren noch angebracht und die Handwerker
gingen eifrig ihrer Arbeit nach.
„Bei
den Göttern“, staunte Lir, als sie direkt vor dem Gebäude
standen, das sich hoch vor ihnen aufrichtete.
Anyún
lachte. „Was hast du denn erwartet? Alanwy ist die Schutzgöttin
Alantuas. Sie verdient den prächtigsten aller Tempel.“
In
einem Brief hatte ihre Mutter vor Jahren erwähnt, dass die
Architektin des Tempels niemand Geringeres als Cassa Abelle-Tyron
sei, die Ehefrau Marlo Tyrons und damit Schwägerin von Malja.
Der
Tempel hatte keine Türen und so traten Anyún und Lir ein
und bestaunten die wunderschönen Fenster, die bereits eingebaut
waren. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, da hörte
Anyún eine ihr vertraute Stimme.
„Die
vordersten Bänke stehen zu weit vorne! Ich sagte doch bereits
vor zwei Wochen, dass wir die Bänke komplett zurücksetzen
müssen.“ Eine kleine Frau mit wallendem blonden Haar und
weiblicher Figur stand schimpfend im vorderen Teil des Tempels. Vor
ihrer Brust trug sie ein wimmerndes Bündel. „Also, können
wir es diese Woche noch schaffen, die Bänke im richtigen Abstand
zu dem Altar zu positionieren?“
Die
ihr untergebenen Handwerker diskutierten darüber, bis die Frau
einen Blick auf Anyún warf. „Oh wie wunderbar!“
rief sie aus. Sie ließ ihre Handwerker stehen und kam auf die
beiden Besucher zu, das Bündel hörte auf zu wimmern. Anyún
erkannte, dass Cassa einen kleinen Säugling bei sich trug, was
in Alantua keine Seltenheit war. Denn auch die Mütter gingen
wieder ihrer Arbeit nach, sobald sie sich danach fühlten.
Anyún
fand sich bald in einer wohlduftenden Umarmung. Mittlerweile war sie
größer als die mütterliche Frau, doch sie fühlte
sich in ihren Armen wieder wie ein kleines Mädchen. „Cassa,
du siehst genauso aus, wie früher.“
„Das
kann man von dir nicht behaupten!“ lachte sie. „Du bist
ja schon zur Frau geworden! Und wer ist dieser junge Mann?“
Lir
beeilte sich, eine Art Verbeugung zustande zu bringen.
„Das
ist Phiols Sohn. Sein Name ist Lir.“
Sofort
schloss Cassa auch den Jungen in die Arme. „Phiols Sohn! Wie
wunderbar! Ihr müsst uns unbedingt einmal besuchen kommen. Marlo
und die Kinder wollen euch auch sehen.“ Und so erzählte
sie ihnen ausführlich, wie schön ihr neues Haus war und
dass sie nun dort viel Platz hätten, sogar für Großvater
Tyron.
Dann
beschloss sie, den beiden den Fortschritt am Tempel zu zeigen. Ganz
besonders stolz war sie auf einen Raum, der sich hoch oben im Dach
befand. Eine unauffällige Tür hinter dem Altar führte
zu einer Wendeltreppe. Cassa selbst konnte wegen ihres kleinen
Bündels nicht mit nach oben kommen. Doch sie beschrieb ihnen,
was sie dort vorfinden würden.
„Wir
haben einen Kristall anfertigen lassen. Bei Sonnenaufgang, zu Mittag
und bei Sonnenuntergang fällt das Licht der Sonne genau in
diesen Kristall. Der besondere Schliff leitet die Strahlen in den
Tempel hinunter, sodass dieser in allen Farben des Regenbogens
erstrahlt. Beeilt euch, bald geht die Sonne unter. Wenn ihr dann noch
oben seid, wird euch das Licht blenden.“
Cassa
hatte nicht zu viel versprochen. Nach einem mühevollen Aufstieg
erreichten sie einen Raum, der zu allen Himmelsrichtungen offen war.
Nur filigrane Säulen hielten das Dach und in der Mitte war ein
wundervoller, glasklarer Kristall mit einem Durchmesser von etwa zehn
Fuß angebracht. Der Blick über Dejia war traumhaft. Anyún
glaubte, im Osten gar bis zum Meer blicken zu können. Im Norden
sah sie die Schatten der Wälder, im Süden die Felder und
Ebenen. Im Westen erhob sich deutlich das königliche Schloss.
„Dejia
ist riesig“, staunte Lir. „Was können Menschen alles
erschaffen?“
„Alles“,
sagte Anyún leise.
Beide
schwiegen und genossen den Blick, der sich ihnen bot.
„Die
Sonne geht unter“, stellte Lir bald fest. „Anyún,
wir sollten wieder nach unten gehen.“
Sie
nickte. „Ja, geh schon mal vor. Ich komme gleich nach.“
Sie
konnte sich nicht lösen von dieser Aussicht und der Ruhe, die
sie hier oben verspürte. Im Osten wanderte die Sonne über
dem Meer gen Horizont. Doch Anyún wandte den Blick gen Süden,
dort wo ihre Schwestern dem Thronfolger Kantús entgegentreten
mussten. Waren sie schon
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