Alasea 02 - Das Buch des Sturms
Ungeheuer aus den Bergen! Es wurde aus seinem stinkenden Bau gezerrt, nachdem es vierzig Menschen umgebracht und sich an ihren Knochen gelabt hatte!«
Tol’chuk schüttelte den Kopf über Krals reißerische Sprüche. Seine Worte grenzten lediglich an Lügen, insofern als Tol’chuks Leute tatsächlich mehr als vierzig Menschen getötet und sich an ihren Knochen gelabt hatten. Es war nur nicht dieser eine, besondere Og’er gewesen, der diese Abscheulichkeiten begangen hatte. Kral mit seinem Ehrgefühl und Wahrheitsdrang der Bergbewohner hatte sich zunächst gescheut, mit so offenkundigen Übertreibungen zu werben, doch im Laufe der Zeit hatte das Gesetz der Straße sein Unbehagen überwunden, und der Gebirgler war inzwischen ganz zufrieden mit seiner Rolle als Anreißer der Truppe. Seine tiefe, dröhnende Stimme eignete sich vorzüglich für diese Aufgabe. Während Kral seine Litanei von Schrecknissen fortsetzte, stöhnte Tol’chuk laut.
»Hast du das gehört?« sagte Kral in verschwörerischem Ton zu jemandem hinter dem Vorhang. »Er regt sich! Man hüte sich vor seinem blutrünstigen Zorn!«
Ein Kind sprach. »Mami, ich will dieses schreckliche Ungeheuer nicht sehen.«
»Ach, mein Liebling, das ist doch nur ein Trick«, antwortete eine Frauenstimme, die sich müde und erschöpft anhörte. »Jemand hat sich verkleidet. Möchtest du es nicht anschauen?«
»Ich will nicht!« Die Stimme des Kindes war ein schrilles Kreischen.
»Na gut, dann schlage ich vor, wir gehen heim.«
»Ich will den großen Hund streicheln!«
Die Stimmen wurden schwächer, als sich die beiden entfernten. »Das war ein Wolf, mein Liebling, und sein Herrchen hat ihn ins Bett gebracht.« Das Kind beschwerte sich weinend.
Kral schob den Kopf zwischen den Vorhangbahnen hindurch. Er hatte ein breites Grinsen aufgesetzt. Anscheinend gefiel ihm seine gegenwärtige Beschäftigung. »Schade, sie sind uns durch die Lappen gegangen.«
»Das habe ich gehört«, brummte Tol’chuk missmutig.
Plötzlich ertönte eine andere Frauenstimme hinter Kral, die ihn erschreckte. Selten schlich sich jemand hinter dem Rücken des Gebirglers an, ohne dass er etwas davon merkte.
»Ich möchte das Ungeheuer gern sehen«, sagte sie. Die Stimme klang bestimmt und lebhaft wie ein Gebirgsbach im Frühling.
Kral erholte sich von seinem Schreck und drehte sich zu ihr um, die eingeübten Worte bereits auf den Lippen, während er den Vorhang zuzog. »Aber ja, kommen Sie, sehen Sie das Ungeheuer, das vierzig Menschen umgebracht und …« Dann wurde die Stimme des Gebirglers brüchig. »Und … er … ähm, ich meine … es …«
»Es tat sich an den Knochen gütlich«, beendete die Frau für ihn den Satz. »Ja, das habe ich alles schon mal gehört.« Das Klimpern einer Münze im Topf bedeutete, dass die Frau gezahlt hatte. »Wenn du jetzt so freundlich sein willst, zur Seite zu treten, dann möchte ich mir euren Og’er ansehen.«
Kral brachte stammelnd die Worte hervor, die er schon tausend Mal heruntergeleiert hatte. »Man hüte sich … vor seinem … blutrünstigen Zorn …«
»Ja, ja, natürlich hüte ich mich.« Die Frau schlüpfte durch den Vorhang und trat vor Tol’chuks Käfig. Kral folgte ihr mit hochroten Wangen.
Tol’chuk betrachtete die Frau eingehend und verstand die plötzliche Verstörtheit des Gebirglers. Sie bot einen überwältigenden Anblick. Die Frau war so groß wie Kral und hatte fast so breite Schultern wie er. Das lange blonde Haar trug sie am Hinterkopf zu einem Zopf geflochten, der ihr bis über die Hüfte reichte. Gekleidet in Leder mit Eisenbeschlägen, wirkte sie eher wie eine Kriegerin, und die beiden Klingen in den überkreuzten Schwertgurten auf ihrem Rücken verstärkten diesen Eindruck noch.
Aber so kriegerisch ihre Gestalt und ihre Kleidung auch waren, war ihr Gesicht doch das einer schönen Frau. Sie hatte volle Lippen, feine Züge und strahlende blaue Augen. Ihr hübsches Antlitz verfehlte seine Wirkung auf Kral nicht. Offenbar konnte der Gebirgler den Blick nicht von ihr abwenden; seine Lippen waren immer noch wie zum Weitersprechen geöffnet.
»Warum habt ihr ihn mit so lächerlichem Kram verunstaltet?« Sie sah zurück zu Kral. »Was soll mit diesen großen Hörnern bezweckt werden?«
Die Miene des Gebirglers wurde noch finsterer, und er war zu keiner vernünftigen Äußerung fähig. Allem Anschein nach durchschaute sie ihr Theater, und wenn einer von ihnen etwas eingewendet hätte, hätte das die Peinlichkeit der
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