Alasea 02 - Das Buch des Sturms
Og’er blickte hinunter auf die Schwertspitze, die seine Brust berührte. Sie kannte nicht nur die Sprache der Og’er, sie kannte auch die einzige Schwachstelle am Körper eines Og’ers, wo ein einziger Stoß ihn töten konnte. Sie hielt beide Waffen in lässigem Gleichgewicht, was beängstigender war als die Klingen an sich.
Tol’chuk ergriff als Erster das Wort. »Kral, steck deine Axt weg. Wenn sie uns etwas hätte antun wollen, dann wären wir beide jetzt tot.«
Kral war kein Dummkopf. Er steckte die Axt behutsam wieder in seinen Gürtel.
»Und was dich betrifft, Mikela, wenn du über die Hexe Bescheid weißt, dann weißt du auch, dass wir unser Leben geben würden, um jeglichen Schaden von ihr abzuwenden. Also schieb deine Schwerter wieder in die Scheiden und lass deine Zunge sprechen.«
Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung schob sie beide Schwerter wieder in die überkreuzten Scheiden auf ihrem Rücken. Sie strich sich eine Locke aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. »Ich will eurer Hexe nichts Böses. Ich bin ihrer Fährte gefolgt, um ihr meine Klingen und meine Dienste anzubieten.« Sie nickte in Richtung der Stadt hinter den Vorhängen. »Aber vielleicht bin ich zu spät gekommen. Hier sind zwei Bösewächter aufgestellt, und die können Magik riechen.«
»Bösewächter?«
»Gezücht des Schwarzen Herzens, gekreuzt mit üblen Magik-Ungeheuern. Sie schmieden bereits Pläne für die Schließung der Stadt. Danach werden sie alle Straßen nach eurer Truppe und der Hexe, die ihr behütet, durchsuchen.«
Kral warf Tol’chuk einen Blick zu; die Frage lag auf der Hand: Sollten sie ihr trauen?
»Wollt ihr davonkommen«, fuhr sie fort, »so muss das noch heute geschehen. Mein Können wird euch dabei von großem Nutzen sein.«
»Und was verlangst du als Gegenleistung?« fragte Kral, immer noch misstrauisch.
»Das ist eine Sache zwischen mir und der Hexe«, antwortete sie kalt.
Kral warf dem Og’er erneut einen Blick zu. Tol’chuk antwortete mit einem Schulterzucken. Es wäre am besten, wenn sie die Frau zu den anderen bringen würden, beschloss er. Mochte die Angelegenheit dann entschieden werden.
Tol’chuk richtete das Wort an sie, wobei in seiner Stimme eine deutliche Drohung mitschwang. »Wenn du die Absicht hast, uns hereinzulegen, dann brauchst du mehr als deine beiden Schwerter, um mich von deiner Kehle fern zu halten.«
Sie lächelte ihn an, ein wenig traurig, dann hob sie die Hand zu seiner Wange. »Spricht man so mit der eigenen Mutter, Tol’chuk?«
Kral sah, wie sich das Gesicht des Og’ers bei der Behauptung der Frau und der Berührung an seiner Wange mehrmals farblich veränderte.
Der Og’er wich von ihr zurück. »Wie konnte … wie war …« Dann fing sich Tol’chuk mit einem Kopfschütteln wieder und sagte mit fester Stimme: »Du kannst nicht meine Mutter sein.«
Mikela dämpfte die Stimme, die nun zum ersten Mal ein wenig sanfter klang. »Ich erkenne in dir ganz deutlich deinen Vater.« Sie deutete mit einer unbestimmten Bewegung auf sein Gesicht. »Die Art, wie deine Augen ein wenig zu eng zusammenstehen. Und diese Nase! Das ist die Nase deines Vaters!«
Tol’chuks Hände berührten sein Gesicht, als ob er versuchte zu spüren, ob die Frau die Wahrheit sagte. Kral fühlte, dass die Frau mit ehrlichem Herzen sprach. »Sie lügt nicht«, versicherte er Tol’chuk.
»Aber wie … Warum?« Tausend Fragen zeichneten sich in Tol’chuks steinernen Gesichtszügen ab. Anscheinend war er unfähig, sie in eine logische Reihenfolge zu bringen.
Mikela legte dem Og’er die Hand auf den Arm. »Ich hatte mich in deinen Vater verliebt. So einfach ist das.«
Die Worte beruhigten Tol’chuk ein wenig. »Wenn du die Wahrheit sprichst, warum hast du uns dann verlassen? Man hat mir gesagt, du wärest bei meiner Geburt gestorben.«
Sie nickte und machte ein nachdenkliches Gesicht. »In gewisser Weise stimmt das. Du weißt doch um dein si’luranisches Erbe, nicht wahr?«
»Tu’tura«, murmelte Tol’chuk.
»Ja«, sagte sie mit leichter Erregung in der Stimme. »So haben uns die Og’er-Stämme von jeher genannt: Tu’tura - Kinderdiebe. Wir wurden von ihnen verachtet. Doch dein Vater kannte mein Geheimnis und war dennoch Manns genug, mich zu lieben. Aber Blut ist Blut, und anlässlich deiner Geburt konnte ich die Tatsache nicht länger leugnen, dass ich in Wirklichkeit kein Og’er bin. Deine Geburt als Halbblut verriet meine Vorspiegelung falscher Tatsachen
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