Alasea 02 - Das Buch des Sturms
tun, um was sie gebeten worden war, deshalb gab sie Conch ein Zeichen, dass er näher zu ihr herankommen sollte, aber sie bezweifelte, dass ihre Mutter zuhören oder antworten würde. Ihre Leute schwammen nun schon so lange in der Großen Tiefe herum, dass sie sich um die Landbewohner und die Welt der Felsen keine Gedanken mehr machten.
Sie übermittelte Conch die Nachricht für ihre Mutter, während sie ihren Weg durch den Meerestunnel fortsetzten. Hin und wieder bebten die Felswände um sie herum, und das Meer wogte in kleinen, lebhaften Wellen auf.
Doch die Wände hielten lange genug stand, dass sie das Ende des Kanals erreichten und dem Tunnel entkamen.
Hell, bemerkte Ragnar’k im Licht der Tagessonne. Saag-wan blickte zu der versunkenen Stadt. Eine große, nach vorn gebeugte Frauengestalt in einem wallenden Gewand grüßte sie, als sie aus der Bucht hinausglitt. Sie hatte das Gefühl, als würde die Statue sie mit traurigen Augen ansehen. Es kam ihr so vor, als wären viele Tage vergangen, seit sie mit Kast und Flint in den Meerestunnel eingefahren war.
Schweigend glitten sie an den Türmen und halb versunkenen Kuppeln A’loatals vorbei, entfernten sich von der Stadt, die sich jetzt einer größeren Bedrohung als dem steigenden Meer gegenübersah: einer Verderbnis, die die Insel im Ganzen schlucken würde. Niemand wagte zu sprechen, aus Angst, die Dunkelheit könnte auch nach ihnen greifen.
Als sie schließlich den Bereich der Stadt verlassen hatten und sich in tieferem Gewässer befanden, hisste Moris mithilfe des Jungen das Segel und nahm volle Fahrt voraus. Saag-wan blieb nur ein kurzer Augenblick, um sich von Conch zu verabschieden; Ragnar’k erlaubte ihm nicht einmal, nahe genug heranzukommen, dass er ihre ausgestreckte Hand hätte berühren können. Mit traurigem Blick wandte sich der Drache ihrer Mutter ruckartig von ihr ab und sank unter die Wellen.
Sie hatte Recht gehabt. Durch die neuen Bande hatte sie einen Teil von sich eingebüßt, der unwiederbringlich verloren war.
Will jetzt jagen. Der Drache verdrehte ein großes schwarzes Auge zu ihr.
Offenbar hatte Flint Ragnar’ks Worte ebenfalls vernommen.
»Lass ihn etwas essen!« rief er zu ihr hinüber. »Wir haben einen langen Weg vor uns.«
Sie winkte zum Zeichen, dass sie einverstanden war. Sie zog den Schnorchel zwischen Ragnar’ks Schulterblättern heraus und legte ihn sich an die Lippen. Sie klopfte dem Drachen dreimal auf den Nacken, um ihm mitzuteilen, dass sie bereit war, dann wurde ihr bewusst, dass dies das Zeichen war, mit dem sie sich bisher mit Conch verständigt hatte. Doch Ragnar’k spürte die Bedeutung hinter der Bewegung und tauchte.
Ihre inneren Lider schlossen sich, während sie sich fester an seinen Hals drückte. Sie sah, wie sich Ragnar’k zur vollen Länge ausstreckte, und bewunderte seine Größe. Er musste mehr als dreimal so groß sein wie Conch. Seine schwarzen Flügel waren geriffelte Schatten zu beiden Seiten.
Ah, gutes Wasser, gute Jagd …
Sie spürte, wie sie mit den Sinnen des Drachen empfand. So wie sie den Stich von Ewans Glaskanüle gespürt hatte, als er Ragnar’k das Blut entnommen hatte, nahm sie jetzt die Bewegung des Wassers über die Schuppen wahr sowie die unterschiedlichen Gerüche, die sich im Meer mischten: die Tinte von Tintenfischen, die Fährte einer Schule von Gelbflossen, selbst den Hauch von Gift aus einem Meeresschlangennest. Sie hörte die Echos ferner Wale im Wasser und - näher - das lärmende Geschnatter von Tümmlern. Außerdem spürte sie die Kraft in Ragnar’ks Körper, in seinen Flügeln, dank derer er sich mit solcher Geschmeidigkeit und Schnelligkeit bewegte. Sie sonnte sich im Genuss dieser neuen Empfindungen.
Wie blind sie dem Meer gegenüber doch bisher gewesen war!
Dann teilte sich ihr ein neuer Geruch mit. Es roch nach dem edelsten, wertvollsten Parfüm ihrer Mutter. Was war das?
Ragnar’k antwortete ihr: Haifischblut.
Sie duckte sich tiefer zum Rücken des Drachen. Plötzlich hechtete Ragnar’k nach links. Saag-wan, die eins mit seinem Denken war, kannte seine Bewegung im Voraus und verlagerte zum Ausgleich ihr Gewicht. Er wirbelte plötzlich über eine geriffelte Felslinie, verdrehte den Kopf schlangenartig nach unten und hieb das Maul in die schwarzen Schatten. Er riss den Kopf zurück, und ein junger männlicher Felshai war zwischen seinen Zähnen gefangen.
In einem Wirbel von rasiermesserscharfen Zähnen wurde der Hai in schluckgerechte Stücke
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