Alasea 02 - Das Buch des Sturms
zerfetzt. Ragnar’k suchte die Gegend ab und sammelte jeden noch so kleinen Bissen ein. Saag-wan drängte ihn nicht zur Eile. Sie genoss den Tötungsakt, den Geschmack von Blut in ihrer Kehle, die Zufriedenheit eines vollen Bauches. Doch vor allem erfreute sie sich daran, wie sie und der Drache vereint waren: ein Herz, ein Sinn, ein Wille.
Sie wollte mehr davon erleben.
Der Drache erfühlte ihren Wunsch. Ich werde dir mehr zeigen. Auch er genoss die Vereinigung. Komm und sieh, komm und sieh …
Plötzlich schoss er in einem engen, Schwindel erregenden Kreis herum, breitete die Flügel aus und jagte davon.
Sie sah, wohin er strebte.
Lachen hallte in ihrem Kopf wider, aber sie vermochte nicht zu sagen, ob es ihr eigenes oder das des Drachen war. Aber war das denn nicht gleichgültig?
Joach saß in der Bugspitze des Schiffs. Der große Drache und das Mädchen waren schon seit geraumer Zeit der Sicht entschwunden. Während der Drache speiste, hielt Moris das Segel schlaff in Wartestellung. Die Sonne schien Joach warm ins Gesicht. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, seit er das letzte Mal die Wärme der Sonne gespürt hatte.
Hinter ihm sprach Flint in der Nähe des Steuers. »Warum bleibt das verdammte Mädchen so lange weg? Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, um zu warten, bis sich der Drache den Bauch voll geschlagen hat. Wir haben noch eine ganz schöne Strecke übers Meer vor uns, bevor wir den Hafen erreichen.«
Moris brummte nur, er war gerade dabei, ein Seil zu einer ebenmäßigen Schnecke zu seinen Füßen aufzurollen.
Joach war es gleichgültig, ob sie den ganzen Tag brauchten. Er streckte den Oberkörper über den Bug, den Stab des Dunkelmagikers immer noch auf den Knien, und genoss die Sonnenstrahlen. Er betete im Stillen, dass irgendwo, jenseits der Küste Alaseas, Elena sich an derselben Sonne erfreute. Er schloss die Augen und träumte davon, dass seine Schwester in Sicherheit war.
Für den Augenblick waren alle seine Sorgen in der wohltuenden Wärme der Sonne verflogen.
Plötzlich brach in der Nähe des Bootes etwas aus dem Wasser hervor. Joach sprang auf und stieß einen überraschten Schrei aus. Das Schiff schaukelte nach hinten, als eine riesige Woge über den Bug schwappte. Er rollte sich in die Bugspitze, da sprang ein Ungeheuer nur ein paar Handspannen vom Boot entfernt aus dem Wasser.
Es bäumte sich zur vollen Höhe auf, der Schattenriss eines Drachen, der sich gegen die Sonne abhob.
Mit einem gewaltigen Flügelschlag erhob sich der schwarze Drache in die Luft. Er drehte und neigte sich und zeigte das Mädchen auf seinem Rücken. Mit einem weiteren Flügelschlag segelte er in der Luft davon. Er flog hoch über dem winzigen Boot dahin, ein riesiger schwarzer Umriss vor der Sonne. Seine Schuppen schimmerten, ein Funkeln wie von Brillanten umkränzte seinen Flug. Sein Mund öffnete sich, und ein gewaltiges Brüllen drang aus seiner Kehle.
Es war kein herausforderndes, sondern ein freudiges Brüllen.
Er flog nach Westen, zur Küste.
Den fassungslosen Mienen der beiden Brüder nach zu urteilen, war ihnen in ihrer prophetischen Vision etwas verborgen geblieben.
Ragnar’k war nicht nur ein Drache des Meeres.
»Ich werde langsam zu alt für so viele Überraschungen«, murmelte Flint, während sie alle dem davonfliegenden Drachen nachblickten.
FüNFTES BUCH
Die Sumpfhexe
25
Im Morgengrauen stand Elena am Rand der schroffen Felsen. Sie blickte hinab auf den Nebel tief unten. Es war, als ob die Welt hier an diesem Ring steil abfallender Klippen, ›Landbruch‹ genannt, endete, denn so weit ihr Blick reichte, breitete sich wabernder Dunst in alle Richtungen aus, eine schmutzig weiße Decke, die die Sümpfe und Moore des Ertrunkenen Lands unter sich verbarg. In der Nähe dröhnte ein dumpfes Tosen, das in ihren Ohren widerhallte; dort ergoss sich der Fluss, dem sie drei Tage lang gefolgt waren, über die Felskante in die Tiefe. Das Wasser stürzte in gischtenden Sturzbächen hinab und verschwand in der Nebelschicht.
Mikela trat neben Elena; Ferndal folgte ihr auf den Fersen. »Er’ril hat die Pferde für die Reise vorbereitet.«
»Tante Mi, bis jetzt hast du noch nicht viel darüber gesagt, was uns da unten erwartet.«
Die ältere der beiden Frauen legte der jüngeren die Hand auf die Schulter. »Das ist schwierig zu beschreiben. Man muss es mit eigenen Augen sehen, um es zu begreifen. Es ist ein unwirtliches Land. Dennoch entbehrt es nicht einer
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