Alasea 02 - Das Buch des Sturms
es in der Tat sehr viel Schönheit«, flüsterte Mikela.
»Aber hütete euch vor dem schönen Antlitz«, entgegnete Jaston. »In den Mooren und Marschen ist Schönheit oft dazu angetan, die Arglosen einzulullen bis in den Tod. Denkt nur an den betörenden Geruch der Mondblume.«
Wie zur Untermauerung seiner Behauptung schwamm eine Giftschlange am Bug des Bootes vorbei. Ihr Körper in leuchtendem Rot durchpflügte im Zickzack das Wasser.
»Trotzdem, Schönheit ist Schönheit«, sagte Mikela mit einem Seufzer.
So verging die Nacht. Niemand schlief. Doch da sie sich während der Reise keiner wirklichen Bedrohung ausgesetzt sahen, konnten sie einigermaßen entspannt die Wunder dieser Landschaft genießen. Für kurze Augenblicke vermochte Elena beinahe zu verstehen, dass Jaston den Sumpf ›Heimat‹ nannte.
Endlich erhellte die Morgenröte den Himmel im Osten. Und während sie sich noch über die aufgehende Sonne freuten, wurde der Frieden der Nacht zerschmettert durch das, was das neue Licht enthüllte.
Um sie herum waren die Bäume so hoch gewachsen, dass ihre Wipfel in den hohen Nebelwolken verschwanden. Die Stämme dieser Sumpfriesen glichen im Umfang der Steinhütte, der sie entflohen waren, und ein dichtes Gewirr von riesigen Wurzeln ragte aus dem Wasser und bildete knorrige Bogen über den Kanal. Als sie unter diesen Bogen hindurchglitten, sahen sie Geschöpfe mit lederartigen Flügeln und scharfen Klauen, die kopfüber an den Wurzeln hingen, die Flügel wie Umhänge um die schlafenden Körper gewickelt. Außerdem hüllten Netze die dicken Wurzeln ein, in denen Spinnen so groß wie Hunde kauerten; beim Vorbeifahren des Boots tropfte ein rotes Öl aus deren Kiefern.
Elena wandte den Blick ab. Die Spinnen erinnerten sie zu sehr an Vira’nis giftige Dämonen, die sie im letzten Frühjahr heimgesucht hatten, wie ein schlechtes Omen, das sie warnen und vertreiben sollte. Sie betrachtete den Kanal, der durch den Sumpf führte.
Das Wasser unter ihnen war nun nicht mehr grün, sondern tiefschwarz wie ein sternenloser Nachthimmel. In der dunklen Fahrrinne tummelte sich allerlei Getier. Fischschwärme schossen um das Boot herum, und selbst von oben waren ihre scharfen Zähne deutlich zu sehen. Breite Wellen kennzeichneten den Weg dieser unsichtbaren Tiere, deren Neugier offenbar durch das Boot angezogen wurde. Für einen Augenblick tauchte eine große weiße Rückenflosse aus dem Wasser vor ihnen auf, dann versank sie wieder.
Ein gurgelndes Platschen lenkte Elenas Blick zur rechten Seite des Boots. Eine gestreifte Python vom Umfang einer Og’er-Brust schlängelte sich von ihrem Platz in einer Baumgabelung herab und glitt ins Wasser. Bevor sie in ganzer Länge in der Tiefe verschwand, war das Boot bereits außer Sichtweite. Zu allen Seiten jedoch waren sie von weiteren Schlangen umgeben. Nester blasser Vipern säumten dick wie aufgehäufter Schnee das schlammige Ufer, während ihre farbenprächtigeren Verwandten in eng gewundenen Knäueln an niedrigen Ästen hingen.
Wohin Elena auch blickte, wimmelte der Sumpf von tödlichen Gefahren. Doch nichts näherte sich dem Boot so weit, dass es eine unmittelbare Bedrohung darstellte.
»Sie … sie lassen uns unbehelligt vorbeiziehen«, murmelte Jaston.
»Die Magik der Hexe«, erwiderte Mikela. »Anscheinend hält sie sie im Zaum.«
Er’ril, der hinter Elena stand, sagte: »Und was ist, wenn die Hexe beschließt, doch nicht ganz so hilfsbereit zu sein, wenn wir ihr begegnen? Wie sollen wir dann jemals hier herauskommen?«
Niemand wusste darauf eine Antwort.
Als das Boot um eine lang gestreckte Biegung des Kanals glitt, öffnete das, was Elena für eine kleine, in schwimmendes Moos eingebettete Insel gehalten hatte, ein großes schwarzes Auge und starrte sie an. Dann sank es in einem Blasenstrudel unter Wasser und entschwand ihrer Sicht.
Elena schlug sich die Arme um den Körper. Selbst die aufkommende Wärme des Tages konnte die Kälte nicht vertreiben, die sich in ihrer Herzgegend eingenistet hatte. Sie strich über das Moos unter ihrem linken Ärmel. Wie sollten sie jemals dem Sumpf entkommen, schon gar ohne ihre Magik?
Jaston stand am Heck des Boots, pflückte eine Frucht, die von einer Ranke über ihm herabhing, und ließ sie zu seinen Füßen fallen. Es gelang ihm, ein halbes Dutzend davon zu sammeln, bevor das Boot an dem obstbehangenen Laubdach vorbeigeglitten war. »Mooräpfel«, erklärte er und setzte sich wieder auf seinen Platz. »Obwohl ich noch nie so
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