Alasea 02 - Das Buch des Sturms
fest. Schließlich umfasste sie beide Hände Elenas mit der ihren und sah ihrem Gegenüber in die Augen. »Du kennst nicht einmal die Hälfte deiner wahren Kraft, Kind«, flüsterte sie so leise, dass Elena bezweifelte, die anderen hätten die Worte gehört. Als die Hexe ein wenig zurückwich, stieg Elena der flüchtige Geruch ihres Parfüms in die Nase. Der Duft kam ihr seltsam bekannt vor.
Bevor Elena sich erinnerte, wo sie den Duft schon einmal gerochen hatte, ließ die Hexe ihre Hände los und richtete sich auf, um die anderen anzusehen. Sie trat einen Schritt zurück. »Es tut mir Leid. Ich bin nicht in der Lage, den Bann vor Einbruch der Dunkelheit aufzuheben.«
Zu ihren beiden Seiten wurden die Schwerter höher erhoben.
»Ich spreche die Wahrheit«, sagte sie mit tiefstem Ernst. »Ich habe nicht so viel Energie aufgewandt und euch den ganzen weiten Weg hierher geführt, um euch zu töten. Ich brauche die Magik dieses Kindes. Aber um mir helfen zu können, muss sie Zugang zu ihrer Macht haben. Das Moos«, sagte sie mit einem Nicken zu Elenas linker Hand, »dient nicht dem Zweck, ihr die Magik zu stehlen. Es war die einzige Möglichkeit, sie hierher zu holen und zu erreichen, dass sie mich anhört. Sobald der Bann aufgehoben ist, wird die Entscheidung, ob sie mir helfen will oder nicht, ganz allein bei ihr liegen. So oder so, ihr alle könnt danach unbehelligt von dannen ziehen. Das Einzige, worum ich bitte, ist, dass sie zuvor mein Begehr anhört.«
Die Schwerter wurden ein wenig zurückgezogen.
Mikela sprach als Erste, ihre Worte waren an Er’ril gerichtet. »Sie ist die Einzige, die den auf Elena lastenden Bann aufheben kann«, gab sie zu bedenken. »Wir können zumindest ihre Geschichte bis zum Sonnenuntergang anhören.«
Er’ril verzog grimmig das Gesicht, doch selbst er wusste, dass das Problem nicht mit dem Schwert gelöst werden konnte. Er senkte die Klinge.
Das freundliche Lächeln kehrte in das Gesicht der Hexe zurück. »Also dann, kommt herein und lasst uns beim Essen unsere Geschichten austauschen.«
Sie ging voraus in den Turm und bewegte sich dabei mit solcher Anmut, dass sich Elena hinter ihr wie ein schwerfälliges Trampeltier vorkam.
Elena war fasziniert von ihrer hoch gewachsenen, geschmeidigen Gestalt und der üppigen Lockenpracht. Jastons Warnung wiederholte sich in ihrem Kopf: In den Mooren und Marschen ist Schönheit oft dazu angetan, die Arglosen einzulullen bis in den Tod.
Als Elena Mikela durch die Eisentür in eine der düsteren Hallen von Burg Drakken folgte, war es nicht nur die steinerne Kälte des Saals, die ihr einen Schauder über den Körper jagte. In dem geschlossenen Raum fing Elena wieder einen Hauch des Duftes der Hexe auf, und jetzt endlich erkannte sie den Wohlgeruch. Sie erinnerte sich an die todbringende Blume, die so süß gerochen hatte, und wieder sah sie das Bild vor sich, wie die Ranken ihre Beute mit dornigem Griff umschlungen hatten.
Lautlos sprach sie den Namen der Quelle dieses Duftes aus: Mondblume.
Er’ril betrachtete aufmerksam die Frau, die ihm an dem Eichentisch gegenübersaß. Während die anderen die Leckerbissen kosteten, die ihnen vorgesetzt wurden, hatte er keinen Sinn für die Auswahl an dunklem Brot und Marmeladen, die feinen Sumpfbohnen in Butter-Zitronen-Soße und die zart gebratenen Wildeberstücke. Stattdessen nippte er an seinem Becher mit bitterem Bier und versuchte, ihre Gastgeberin zu ergründen.
Die Hexe hatte die kastanienbraunen Locken mit einem geflochtenen grünen Band zurückgebunden. Sie überwachte aufmerksam das Auftragen der einzelnen Gänge des Mahls. Beim gegenseitigen Bekannt machen hatte sie sich mit dem Namen Cassa Dar vorgestellt, jedoch nicht mehr von sich preisgegeben, sondern sich vielmehr um das Wildeberfleisch gekümmert oder da und dort in einem Topf gerührt. Als die Mahlzeit dann begann, nahm sie gegenüber von Er’ril an der Tafel Platz, doch ihr Blick war einzig und allein auf Elena gerichtet. Das Mädchen saß neben ihm und kaute an einer Scheibe Brot, die dick mit Beerenmarmelade bestrichen war. Elenas gespannte Schultern verrieten Er’ril, dass der Blick der Hexe das Mädchen beunruhigte, aber sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Mikela saß auf der anderen Seite neben Elena. Sie war also sicher zwischen ihren beiden Schwertern.
Die übrigen Mitglieder ihrer Gruppe, Jaston und Ferndal, saßen an der Tischseite der Hexe. Der Wolf kauerte am Boden neben dem Stuhl der Hexe und hatte
Weitere Kostenlose Bücher