Alasea 02 - Das Buch des Sturms
lang, bis ihr bewusst wurde, dass sie dem Wald entkommen war und die hügeligen Wiesen am Fuß der Berge erreicht hatte. Erst als ihre Füße durch einen breiten, flachen, von Schneeschmelzwasser gespeisten Bach platschten, nahm ihr Blick das offene Gelände deutlich wahr. Um sie herum tauchten die letzten Strahlen der Nachmittagssonne die Wiesen in Rosa- und Goldtöne. Ein paar verstreute Inseln junger Eichen fleckten die Landschaft, und in dichten Büscheln kündeten wilde Hyazinthen vom nahen Frühling.
Nun, da sie nicht mehr von überhängenden Ästen und den Netzen ihrer Kinder umgeben war, kam sich Vira’ni plötzlich ungeschützt und verletzlich vor. Ihre Beine wurden langsamer, als sie auf dem Pfad weiter schritt, der aus dem Hochlandwald hinaus und hinunter zu den fernen Ebenen führte. Sie blickte zurück zum schwarzen Himmel, der von unten durch den scharlachroten Schein der Flammen beleuchtet wurde. Wie ein lebendiges Tier schob sich die Feuersbrunst näher zu ihr heran, grollend vor Zorn über ihr Entkommen.
Sie merkte, dass ihre Beine wieder schneller voranstolperten. Würde sich das Feuer mit dem Wald allein zufrieden geben? Zwar waren die Wiesen grün und feucht, aber würde das ausreichen, um die Flammen zu löschen und das Vorankommen des Feuers zu verhindern?
Sie wankte weiter; ihre Hand lag schweißnass auf ihrem Bauch. Sie musste mehr beschützen als nur sich selbst. Sie durfte nicht aufhören zu laufen. Während die Sonne sich hinter ihr in Richtung Horizont zurückzog, kämpfte Vira’ni sich weiter. Wenn sie erst einmal sicher wäre, dass sie und die Horde außer Gefahr waren, dann könnte sie anhalten und ihrem Herrn mitteilen, was über sie hereingebrochen war. Immer wieder blickte sie sich nach hinten um, während sie schwerfällig durch die nassen Wiesen stapfte.
Die Augen starr auf die Flammen gerichtet und die Ohren erfüllt vom Brüllen des Feuers, übersah Vira’ni das kleine Jagdlager im Schutz hinter dem Anstieg des nächsten Hügels, bis sie beinahe in den Kreis von Zelten hineingefallen wäre. Anscheinend waren die anderen ebenso überrascht, wie sie selbst erschreckt war.
Vira’ni blieb misstrauisch stehen, vor den Fremden auf der Hut. Sie schätzte schnell die Gefahr ab. Ein Dutzend Männer, bekleidet mit den grünen Lederwämsern und den kniehohen Stiefeln, wie sie Jäger zu tragen pflegten, saßen oder standen um drei Feuer herum. Ein paar Frauen, die mit Kochgeschirr und Bratspießen beschäftigt gewesen waren, waren bei ihrem Erscheinen in verschiedenen Haltungen erstarrt. Zwischen den Erwachsenen lugten die kleinen Gesichter einiger Kinder hinter Beinen und Busen hervor.
Alle waren einen Herzschlag lang wie gelähmt, bis ein Hund, der in der Nähe eines der Zelte angebunden war, ein wildes Gebell in ihre Richtung ausstieß. Dies brachte sofort Bewegung in die Szene. Vira’ni wich einen Schritt zurück. Die Männer stießen sich gegenseitig an, und es fielen muntere Worte, begleitet von wohlwollenden Blicken in ihre Richtung. Bratspieße mit Fleisch drehten sich wieder, und eine breitschultrige Frau versetzte dem Hund einen Klaps und schalt ihn leise.
Ein Mann löste sich von der Gruppe und näherte sich ihr. Er hatte sandfarbenes Haar mit einem dazu passenden breiten Schnauzbart und überragte die anderen Jäger um einen guten Kopf. Seine Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst, und seine grünen Augen verrieten argwöhnische Neugier. »Mädchen, warum bist du ganz allein hier in den Hügeln unterwegs?«
Vira’ni schrumpfte unter seinem Blick und ließ die langen schwarzen Haare zwischen seine Augen und ihr Gesicht fallen. Sie fand keine Worte, da sie den Schreck über die unvermittelte Begegnung mit den Menschen noch nicht überwunden hatte.
»Wo sind deine Gefährten? Bist du …?«
Die Stimme des Jägers verebbte, als eine Frau, die so hoch gewachsen war wie ein großer Mann, ihn mit dem Ellbogen zur Seite stieß. Sie trug das blonde Haar kurz, und um ihren Mund und ihre Augen lag ein entschlossener Zug. »Süße Mutter, Josa, siehst du denn nicht, dass sie hochschwanger und fast tot vor Angst ist?« Sie schubste den Jäger noch weiter weg. »Kümmere dich um deinen Hund, bevor er sich mit seiner Leine selbst erwürgt.«
Nachdem Josa zurück in die Mitte des Lagers geschlurft war, stemmte die Frau die Fäuste in die Hüften und musterte Vira’ni von oben bis unten. Ihre Stimme klang jetzt wärmer als zuvor. »Also, Kind, hab keine Angst. Ich
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