Alasea 03 - Das Buch der Rache
auseinander zu reißen. Jetzt, da du wieder in mein Leben getreten bist, würde ich das Land sogar der Dunkelheit überlassen, nur um dich an meiner Seite zu behalten.«
Ihre Worte zauberten doch noch ein trauriges Lächeln auf Tol’chuks Lippen. »Mutter, du kannst so gut lügen«, sagte er warmherzig, »und dafür liebe ich dich umso mehr.«
Mikela trat vor und legte ihm die Hände auf die Wangen. Sie zog sein Gesicht zu sich herunter und küsste ihn. »Sei dir dessen nicht so sicher, mein Sohn.«
Eine Stimme störte ihre Zweisamkeit. Es war Merik, der von der Schiffsreling herunterrief: »Der Kapitän sagt, wir müssen mit der Flut auslaufen. Wir können nicht mehr länger warten.«
Mikela winkte dem Elv’en zu, um zu zeigen, dass sie ihn verstanden hatte. Merik, der damit seine Pflicht getan hatte, humpelte auf seinem Stock fort mit Mama Freda und ihrem zahmen Tamrink im Schlepptau. An Bord des Schiffes machte sich geschäftiges Treiben breit, die kleine Besatzung verstaute die Leinen und setzte die Segel.
Sie hatte nicht mehr viel Zeit, aber einige Momente blieben der Schwertkämpferin noch mit ihrem Sohn. Sie und Tyrus hatten für ihren Teil der Gruppe bereits alle Reisevorbereitungen abgeschlossen und waren bereit zum Aufbruch. Ihr Wallach, Grisson, war gesattelt und aufgezäumt. Mogwied und Ferndal hatten auf dem kleinen Wagen Platz genommen, in dem ihre Vorräte verstaut waren, flankiert von Tyrus und seinem Trio aus Dro Kriegerinnen, die bereits auf ihren Pferden saßen. Auch Kral und sei Schlachtross Rorschaff waren fertig. Beide, Ross und Reiter, schienen ganz begierig darauf zu sein, in der nahenden Morgendämmerung aufzubrechen.
Die beiden anderen Pferde, Er’rils Steppenhengst und Elenas kleine Stute, waren an Bord verfrachtet und in Boxen im Laderaum untergebracht worden. Alles war bereit.
Nur der letzte Gruß fehlte noch.
Mikela drehte sich um, damit sie noch ein letztes Mal in die Augen ihres Sohnes blicken konnte. Worte vermochten ihren Schmerz nicht zu lindern. Mutter und Sohn fielen sich in die Arme. Es war, als würde sie einen rauen Felsbrocken umarmen, aber Mikela zog ihren Sohn noch fester an sich. Sie wollte diesen Augenblick für immer in Erinnerung behalten.
Während sie ihn festhielt, trübte die Erinnerung daran, wie sie ihn gehalten hatte, als er noch ein kleines Kind war, ihre Sicht, und ihr Körper reagierte ebenfalls. Sie fühlte, wie ihre Muskeln schmolzen und die Knochen sich bogen, und bald reichten ihre Arme ganz um Tol’chuks massige Gestalt. Sie musste an seinen Vater und die Freuden denken, die sie einst miteinander geteilt hatten, und ihr Körper verwandelte sich vollends. Das Geräusch von reißendem Stoff und Leder drang an ihre Ohren. Aber sie achtete nicht darauf, fühlte keine Scham.
Bald waren es nicht mehr Frau und Og’er, die sich da umarmten, sondern Mutter und Sohn, zwei Og’er. Tol’chuk löste sich aus der Umarmung. Mit geweiteten und tränengefüllten Augen starrte er Mikela an. »Mutter?«
Sie wusste, was er sah. Ein kleines Og’er Weibchen. Tol’chuks wahre Mutter. Mit Klauen und Fangzähnen bewehrt, lächelte sie ihn an. Ihre Stimme klang wie das Rumpeln herabfallender Felsblöcke. »Du bist mein Sohn. Vergiss niemals, dass du mein Herz bist. Mein Fleisch und Blut, meine größte Errungenschaft. Ich sehe dich an und weiß, dass mein hartes Leben einen Sinn hat.«
Sie umarmten sich noch einmal, als die Morgendämmerung den Horizont zu erwärmen begann und die Möwen die aufgehende Sonne mit ihren Schreien begrüßten. Es schien, als fühlten selbst die Vögel den Schmerz in Mikelas Herzen. Sie wusste, dass dies das letzte Mal war, dass sie ihren Sohn umarmte.
11
Keuchend vor Schmerz wurde Flint bewusst, dass er nur eine einzige Chance hatte. Er musste es irgendwie bewerkstelligen, dass Meister Vael und Kapitän Jarplin gleichzeitig dicht neben ihm standen. Während die beiden den Knochenbohrer vorbereiteten, schüttelte Flint im Verborgenen die Finger aus, damit das Blut in den nun befreiten Handgelenken wieder richtig zirkulieren konnte. Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen.
Den ersten Schritt der Behandlung hatte er mit nur einem einzigen Schrei überstanden. Kapitän Jarplin war mit einem Dolch an ihn herangetreten. Flint hatte geflucht und Jarplin angespuckt und weiter vorgetäuscht, er wäre noch immer fest angebunden. Es hätte ihm wenig eingebracht, nur den Kapitän zu töten. Also hatte Flint die Qualen durchgestanden, als
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