Alasea 03 - Das Buch der Rache
unseres Volkes verfasst wurden«, fuhr Meisterin Rupeli fort, »heißt das noch lange nicht, dass das, was mit Tinte geschrieben wurde, auch die Wahrheit ist. Ich meine, wir…«
»Genug jetzt«, unterbrach das letzte Mitglied des Rates, der finster dreinblickende Meister Heron, das Gespräch. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Die Vergangenheit ist vergangen«, erklärte er mürrisch. Seine Glatze glänzte im Licht, das von den Wänden fiel. »Wir verschwenden nur unsere Zeit mit diesem törichten Gerede. Was bedeutet schon unsere Vergangenheit? Wir sollten uns über die gegenwärtige Lage Gedanken machen. Die Horden Gul’gothas ziehen sich in A’loatal zusammen, und die Lakaien des Herrn der Dunklen Mächte überfluten die Meere. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie uns entdecken und uns zu unterjochen versuchen werden, so wie sie es mit Alasea getan haben. Darüber sollten wir reden.«
Saag wan beobachtete Meister Edyll während dieses Ausbruchs des fünften Ratsmitgliedes. Er saß nur ruhig da, die Hände im Schoß gefaltet. Erst als die Aufregung der anderen sich gelegt hatte, ergriff er erneut das Wort. »Der Mann hat ein Recht, es zu erfahren«, erklärte er ruhig. Er winkte mit einer Hand zu Kast. »Du kannst die Wahrheit nicht leugnen.«
Die Augen der Räte richteten sich auf den Blutreiter.
»Inwiefern?« fragte Kast, dessen Wut und wachsende Ungeduld sich in zusammengepressten Lippen und zusammengekniffenen Augen niederschlugen.
Sie übergingen seine Reaktion. Saag wans Mutter wandte sich an den Vorsitzenden. »Erzähl weiter, Edyll. Bring die niederträchtige Geschichte zu Ende und dann Schluss damit. Ich für meinen Teil habe keine Lust, noch länger über diese Angelegenheit zu streiten.«
Meister Edyll verneigte leicht den Kopf und beugte sich damit dem Willen der Rätin. »Wie ich schon sagte, die Inseln waren einst unsere Heimat, aber wir führten kein beschauliches Leben. Ganz im Gegenteil. Die rauen Meere des weiten Ozeans hatten unser Volk hart gemacht. Wir entwickelten uns zu einem wilden Menschenschlag, griffen benachbarte Inseln an und herrschten über die besiegten Stämme wie Tyrannen. Wir opferten unseren Göttern Kinder und tranken aus den Schädeln der Unterjochten. Die Herzen unserer Vorfahren waren so kalt wie die Eisschollen des Nordens.«
»Das kann nicht sein«, stöhnte Saag wan. Solche Geschichten hatte sie noch niemals zuvor gehört. Als sie der Reihe nach in die Gesichter der Ältesten blickte, glaubte sie in den Augen ihrer Mutter einen Funken Mitgefühl für ihren Kummer zu erkennen. Die anderen Ratsmitglieder hielten die Köpfe gesenkt; ihre Haltung zeigte, dass sie Scham und Wut empfanden.
»Eines Winters tauchte ein Mann bei uns auf. Einige behaupten, er gehörte zu einem der Stämme, die wir erobert hatten. Andere sagen, er sei der Bastard unseres Königs gewesen. Er erklärte unsere Handlungsweise für falsch und redete mit Worten des Friedens auf uns ein. Die Unterdrückten strömten in Scharen zu ihm, angezogen von seinen freundlichen und mitfühlenden Worten. Er bereiste all unsere Inseln, und sein Gefolge wurde immer größer und protestierte immer lauter. Der damalige Herrscher der Mer’ai, König Raff, schickte daraufhin seine Krieger aus. Sie sollten die Anhänger niedermetzeln und ihm den Kopf dieses Mannes bringen.«
»Wer war er?« fragte Saag wan.
Meister Edyll nippte an seiner Tasse Tangtee. »Er hatte mehrere Namen: Sinneswandler, Drachenbruder, Friedensverkünder. Aber sein wahrer Name geriet wohl im Laufe der Zeit in Vergessenheit.«
»Ein weiterer Beweis dafür, dass die Geschichten nichts weiter als Sagen sind«, spottete Meister Talon.
Saag wan wollte nicht, dass ein neuer Streit entbrannte, und griff schnell ein. »Was ist mit diesem Mann geschehen?« fragte sie.
Meister Edylls Blick schweifte ab in die Vergangenheit. »Es wurde eine lange Jagd. Ganze Inseln wurden ausgelöscht. Es heißt, die Meere waren einen gesamten Mond lang rot vor Blut. Um die Massaker zu beenden, kam der Mann freiwillig zu König Raff. Als die Schlachten am schlimmsten wüteten, tauchte er im Thronsaal auf. »Beendet die Grausamkeiten« verlangte er und stellte sich den Truppen des Königs. Diese folterten den Mann sieben Tage und Nächte lang. Sie blendeten ihn mit glühenden Eisen und zertrümmerten ihm Hände und Füße.«
Saag wan zuckte bei diesen Worten zusammen. Wie konnte diese entsetzliche Geschichte
Weitere Kostenlose Bücher