Alasea 03 - Das Buch der Rache
wahr sein? Wie konnte dies das Erbe ihres Volkes sein?
Meister Edyll fuhr im gleichen Tonfall fort. »Sie zurrten seinen blutigen, misshandelten Körper er war noch immer am Leben auf einem Floß fest und ließen ihn zu den Haien hinaustreiben. Da begann der Mann zu singen. Es war kein Lied der Rache und des Hasses, sondern handelte von Vergebung. Diejenigen aus seinem Gefolge, die noch am Leben waren, und auch viele, die sein Lied zum ersten Mal hörten, folgten ihm aufs Meer hinaus. Selbst des Königs eigene Tochter schloss sich dem singenden Mann an. Einige behaupten, sie sei seine Geliebte gewesen. Andere sagen, sein Lied habe sie einfach nur gerührt. So oder so, eines steht jedenfalls fest: Sie besaß eine magische Stimme. Draußen auf dem Meer fiel sie in sein Lied ein, und aus den Tiefen des Ozeans stiegen die mächtigen Drachen auf und antworteten ihrem Ruf. Dann retteten die Drachen die Geflohenen von den Inseln.« Meister Edyll machte eine Pause und griff mit zitternden Fingern nach der Teetasse.
»Und so entstanden die Mer’ai«, beendete Kast die Geschichte mit einem säuerlichen Zug um die Mundwinkel. »Seedrachen und Mer’ai vereint. Wie edel!«
»Nein«, entgegnete Meister Edyll und schüttelte langsam den Kopf. »Du hörst mir nicht genau zu. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.« Meister Edyll ließ die Worte erst in Kasts Bewusstsein dringen, bevor er fortfuhr. »Nachdem die Drachen die Menschen gerettet hatten, schickte König Raff seine Schiffe aus um die Entflohenen zu jagen. Er wollte sie alle töten, die Drachen eingeschlossen. Aber wieder ließ der gefolterte Mann das nicht zu. Auf einem großen weißen Drachen stellte er sich König Raffs Armada entgegen und bat ihn, das Blutvergießen zu beenden. »Nehmt mein Leben, ich tausche es gegen Euer Volk ein«, brüllte er über die Wellen, während sein misshandelter Körper kaum in der Lage war, aufrecht auf dem Reittier zu sitzen. König Raff lachte den geblendeten Mann aus und befahl den Kriegern, ihre Speere und Harpunen zu werfen. Drache und Mensch wurden von hunderten von Spitzen durchbohrt. So sanken sie unter die Wellen, und ihr Blut vermengte sich mit dem Salzwasser.«
Meister Edylls Stimme klang mit einem Mal hart. »Nachdem nun ihr Meister ermordet worden war, wurden die Anhänger des Mannes wütend. Gemeinsam mit den Drachen griffen sie die Flotte des Königs an und besudelten die Decks mit dem Blut der Niedergemetzelten. Sie ließen keinen aus. König Raffs Kopf wurde von seiner eigenen Tochter auf dem Bugspriet seines Schiffes aufgespießt, und die Flotte kehrte zu den Heimatinseln zurück. Es wird behauptet, dass kein einziger Insulaner ihrem Zorn entkommen konnte. Diese wilden Krieger wurden von den Insulanern als Drachenvolk beschimpft oder, wie es in der alten Sprache heißt, De’rendi.«
»Mein Volk«, sagte Kast, und Entsetzen sprach aus seiner Stimme.
»Ja. Und an der Spitze euer erster Anführer.«
Kasts Augen wurden groß. »Die Kriegerkönigin Raffel.« Saag wan sah die Erkenntnis in den Augen des Mannes.
»Raffel«, sprach Meister Edyll den Namen richtig aus. »Die Tochter des Raff. Ein und dieselbe Person.«
In der beklemmenden Stille, die sich nun breit machte, ergriff Saag wan das Wort. »Aber was sagt das über den Ursprung unseres Volkes aus?«
Meister Edyll seufzte. »Als das Meer rot wurde vom Blut der Ermordeten, gab es uns bereits. Der Mann, der den Frieden gepredigt hatte und unter dem Gewicht von hunderten von Speeren untergegangen war, und der Drache waren doch nicht verendet. Drei Tage lang vermischte sich unter den Wellen das Blut des Drachen mit dem des Menschen und mit dem Salz des Meeres. Die heilenden Eigenschaften, die dem Drachenblut zu Eigen waren, begannen sich auszuwirken. Magik ließ die Grenze zwischen Mensch und Drachen verschwimmen. Der Mensch wurde ein wenig wie der Drache, und der Drache ein wenig wie der Mensch. Die zwei waren für immer miteinander verschmolzen und verbunden.«
»Er war der erste echte Mer’ai«, stellte Saag wan mit einem Anflug von Verwunderung in der Stimme fest.
Meister Edyll nickte. »Als er wieder vollständig gesundet war, stieg er auf seinem weißen Drachen aus dem Meer. Sein dunkles Haar war weiß geworden und glich damit den Schuppen des Drachen. An Fingern und Zehen hatte er wie das große Tier Schwimmhäute bekommen. Drache und Mensch konnten nun als Blutsverwandte miteinander sprechen. Nur eines an dem Mann blieb von der Magik unberührt: sein
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