Alasea 03 - Das Buch der Rache
die das Kind der Blutmagik zu verdanken hatte. Der Wolf knurrte erneut und drehte sich zur Straße.
»Kommt jemand?« fragte Mikela.
Der Wolf nickte.
»Gefahr?«
Ferndal jaulte unheilvoll auf. Er war sich selbst nicht sicher, aber er mahnte die Gefährtin zur Vorsicht.
Mikela schnalzte mit der Zunge und ließ das Pferd weitergehen. Sie veränderte ihre Stellung so, dass die überkreuzten Schwertscheiden auf dem Rücken frei zugänglich und die zwei Schwerthefte in Reichweite waren. Der Wolf verschwand wieder im Wald. Ferndal ging in Deckung, um aus dem Hinterhalt angreifen zu können, sollte Gefahr drohen. Aus dem Augenwinkel beobachtete Mikela die Umgebung und wartete auf ein Zeichen des Wolfes. Vorhin hatte sie seine gefleckte Gestalt noch ohne Schwierigkeiten ausmachen können, doch nun schien es, als wäre der riesige Baumwolf vom Erdboden verschluckt. Kein einziger Zweig knackte, kein Schatten bewegte sich.
Da hörte Mikela plötzlich leisen Gesang. Sie lenkte den Wallach um eine Kurve der zerfurchten Straße. Die Bäume wurden dichter, und die Straße verlief ein längeres Stück geradeaus. Der Sänger stand rechts neben dem Weg, halb verdeckt vom Schatten der dicken Äste einer alten, vom Wind gebeugten Zypresse. Der Wandersmann schien Mikelas Anwesenheit nicht zu bemerken und sang leise weiter eine alte Ballade in einer fremden Sprache.
Da der oder die Fremde in einen kunterbunten Umhang gehüllt war, offenbar aus vielen hundert bunten Stofffetzen zusammengewürfelt, konnte man unmöglich feststellen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Mikela suchte den umliegenden Wald ab, konnte aber keine Anzeichen von weiteren Störenfrieden entdecken. Als die Schwertkämpferin langsam näher kam und die Hufe des Pferdes auf dem gestampften Lehm der Straße klapperten, änderte sich der Rhythmus des Liedes, sodass man glauben musste, der Sänger hätte seine Melodie dem Takt der Pferdehufe angepasst.
Nahe genug herangekommen, hob Mikela den Arm zum Gruß. Mit ausgestreckten Handflächen bedeutete sie dem Fremden, dass sie ihm nichts Böses wollte. Der Sänger bemerkte sie jedoch noch immer nicht, er setzte seine sehnsüchtige Melodie fort. Nun hätte Mikela eigentlich erkennen müssen, um wen es sich bei dem Reisenden handelte: Mann oder Frau, Jung oder Alt, Freund oder Feind. Aber die Kapuze des bunten Umhangs verbarg das Gesicht des Sängers. Nicht ein Stück Haut war unter dem bunt gescheckten Kleidungsstück zu sehen.
»Hoho, Reisender«, rief Mikela. »Was gibt es von unterwegs zu berichten?« Dies war der gängige Gruß der Straße, den man fast überall in den Ländern Alaseas verstand, ein Angebot, Neuigkeiten und Informationen aus den Ländern, aber auch Waren auszutauschen.
Der Sänger sang jedoch unbeirrt weiter. Erneut änderte er den Takt. Er wurde langsamer und die Musik leiser, als ob sich die Stimme von diesem Ort entfernte. Seltsamerweise entfachte die Musik in Mikela eine tiefe Wirkung. Sie fühlte sich von jeder abklingenden Note magisch angezogen und suchte nach der Bedeutung hinter den fremden Worten. Als das Lied schließlich zu Ende war, hätte Mikela geschworen, dass sie drei geflüsterte Worte am Schluss des Liedes verstanden hatte: »Such meine Kinder…«
Mit gerunzelter Stirn näherte sich Mikela dem Fremden. Hatte sie die Worte wirklich gehört, oder war es nur ein Streich, den ihr ihre eigenen Gedanken gespielt hatten?
Mikela zügelte ihr Pferd unmittelbar neben dem Fremden, sie beabsichtigte, ihm einige Fragen zu stellen. Was wollte der Fremde ihr zu verstehen geben? Als das Pferd schließlich zum Stehen kam, verschwand der Fremde mitsamt seinem Lied. Der bunte Umhang fiel auf dem Waldboden in sich zusammen, als hätte es den Sänger niemals gegeben. Und was Mikela für einen Mantel aus gefütterten Stofffetzen gehalten hatte, entpuppte sich nun als ein Haufen Blätter verschiedener Färbung, ein bunter Teppich aus Herbstlaub und Frühlingsgrün.
Eine plötzlich vom Meer her aufkommende Brise wehte durch den Wald und verstreute die Blätter auf dem Weg. Welche Art von Magik war dies nun wieder?
Da sie einen Beweis benötigte, um feststellen zu können, ob sie nicht schon in die Welt der Trugbilder abgeglitten war, rief Mikela nach ihrem Gefährten. »Ferndal!«
Der Wolf erwies sich als guter Begleiter und tauchte sogleich neben ihr auf, ein fester Körper aus Muskeln und dunklem Fell. Mikela stieg vom Pferd, und zu zweit durchsuchten sie die verstreuten
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