Alasea 03 - Das Buch der Rache
Ästen und Blättern halten zu können »Seht!« rief Joach und zeigte hinauf in den Wipfel eines Baumes. Im Gegensatz zu den Wäldern auf dem Festland wuchsen hier Blätter von der Farbe des Sonnenuntergangs, glühend orange und blassrot. Eine leichte Brise fuhr in das Blattwerk, worauf unter den Blättern überraschend zarte Blüten zum Vorschein kamen, so dunkelrot, dass sie fast schwarz wirkten. »Das müssen die Blüten sein, von denen Flint uns erzählt hat«, fuhr Joach fort. »Seine Sekte erntet sie, um daraus Schlafpulver herzustellen.«
Elena nickte und starrte geradeaus, als das Schiff in einen engen Kanal zwischen den Bäumen einfuhr. Flint hatte erzählt, dass der Wald eigentlich nicht aus Bäumen bestand. Jeder »Baum« war in Wirklichkeit ein Ableger, der aus dem dichten roten Tang herauswuchs, um das Sonnenlicht besser einfangen zu können. Aber jetzt, da sie sich im Wald befanden, zweifelte Elena an Flints Worten. Es kam ihr vor, als trieben sie auf einem Fluss, der lediglich seine Ufer überflutet und die Wurzeln der Bäume verschluckt hatte. Das offene Meer schien weit entfernt zu sein, Teil eines schrecklichen Traumes. Die Welt bestand nur noch aus Bäumen und Wasser.
Um diesen Eindruck noch zu verstärken, wuchsen in der Ferne kleine Hügel aus dichtem rotem Tang so hoch aus dem Wasser, dass es wie echtes Land wirkte. Auf einigen dieser Flecken hatten auch andere blühende Pflanzen ausgetrieben. Ein großer Hügel etwa war übersät mit Blumen, die aussahen wie Margeriten mit gelben Blütenblättern. Elena entdeckte sogar ein kleines Pelztier, das über diese Insel huschte, den buschigen Schwanz steil in die Luft gereckt. Es flitzte einen Baum hinauf und war verschwunden, als das Schiff vorüber fuhr.
»Kaum zu glauben, dass wir uns mitten im Meer befinden«, wunderte sich Joach.
Mama Freda nickte. »Das erinnert mich an meine Dschungelheimat. In einigen Gegenden Yrendls fällt der Regen so regelmäßig und üppig, dass der Dschungel genauso überschwemmt ist wie hier.«
»Aber ist dieser Ort sicher?« fragte Merik ängstlich. »Wir könnten hier leicht in eine Falle geraten. Warum hat der alte Mann gerade diesen Ort ausgesucht, um sich mit den Mer’ai zu treffen?«
»Er wird seine Gründe haben«, meinte Elena.
Plötzlich tauchte Flint hinter ihnen auf und erschreckte sie. Ihr Gespräch hatte ihn hinter dem Ruder hervorgelockt. »Habt keine Angst«, beschwichtigte er seine Freunde. »Für jene, die den Kalmengürtel kennen, gibt es keinen sichereren Ort, um eine große Flotte zu verstecken. Dieses Labyrinth aus Kanälen, Bäumen und Tang besitzt hunderte von Ausgängen und Fluchtwegen. Für jene aber, die mit den Pfaden des Kalmengürtels nicht vertraut sind, kann es eine tödliche Falle darstellen.«
»Und du kennst diesen Wald gut?« fragte Tol’chuk.
»Ja, die Sekte der Ho’fro, mein Orden, hat dieses Gebiet genau verkartet. Neben dem Schlafpulver bietet diese Region einen Reichtum an botanischen Schätzen.« Flint blickte in die umstehenden Bäume. »Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum ich diesen Ort als Treffpunkt gewählt habe.«
Sie warteten alle auf seinen Vortrag, nur Merik zeigte sich ungeduldig. »Warum?« wollte er gleich wissen.
Flint machte eine ausladende Handbewegung, die den gesamten Wald einschloss. »Diese Bäume mögen wie gewöhnliche Bäume aussehen, wie sie auch auf dem Festland zu finden sind, aber das ist eine Täuschung. Alle Bäume hier wachsen aus einer gemeinsamen Wurzel dem Sargassum Tang. Alles, was ihr hier seht, sind keine einzelnen Bäume, nein, es ist eine einzige Pflanze. Die gesamte Gegend der Tang unter Wasser und der ganze Wald ist ein einziges Wesen.«
Elena starrte hinaus auf die weite Landschaft. »Ein Wesen?«
Flint nickte. »Auf gewisse Weise ist es ein Lebewesen genau wie du und ich. Aber es lebt ein sehr seltsames Leben. Es existierte schon, bevor irgendjemand einen Fuß auf die Ufer Alaseas setzte. Es bemisst sein Leben nach Jahrhunderten, so wie wir Tage zählen. Das Leben eines Menschen ist nur ein Augenschlag, gemessen an dem langen Bestehen dieses Waldes. Wir sind für dieses Riesenwesen nur Mücken.«
»Warum sind wir dann hier? Wie soll uns das weiterhelfen?«
»Vor langer Zeit, Jahrhunderte bevor der Gul’gotha unser Land plagte, knüpfte ein Bruder des Grünen Ordens, Bruder Lassen Kontakt zu diesem Wesen. Die beiden unterhielten sich. Unglücklicherweise denkt und spricht der Wald genau so, wie er lebt, nämlich
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