Alasea 03 - Das Buch der Rache
sagte Er’ril und wandte sich zur Tür. Beim Hinausgehen aus der Kabine fügte er noch hinzu: »Du hast richtig gehandelt, es mir zu erzählen, Elena.«
Als die Tür sich schloss, starrte Elena auf die Maserung des Holzes. Hatte der Präriebewohner Recht? War es wirklich richtig gewesen, Joachs Geheimnis zu verraten? Sie biss sich auf die Lippe, und wieder machte sich Übelkeit in ihren Eingeweiden breit, aber diesmal rührte sie nicht vom Schaukeln des Schiffes her. Seit wann überstieg ihr Vertrauen zu Er’ril den Glauben an ihre eigene Familie? Sie sah Joachs Gesicht vor ihrem inneren Auge, als er zum ersten Mal von seinem Verdacht erzählt und ihr das Geheimhaltungsversprechen abgerungen hatte: die Eindringlichkeit und Liebe in seinen Augen, das stille Vertrauen eines Bruders zu seiner Schwester.
Zum zweiten Mal rannte Elena zum Nachttopf.
»Halt, stehen bleiben!« rief der Wachmann. Er stand auf der Mauer, halb verdeckt von der Steinbrüstung.
Mikela lenkte den Wallach einige Schritte zurück, um die Wache besser sehen zu können. Ferndal stand angespannt neben dem Pferd, anscheinend spürte er Mikelas Misstrauen.
Nachdem sie die Nacht in einer Herberge in Graumarschen verbracht hatte, war Mikela beim ersten Sonnenstrahl aufgebrochen, denn sie wusste, Port Raul erreichte man am besten bei Tageslicht. Dort angekommen, war sie überrascht, Port Rauls Südtor verschlossen vorzufinden. Die Spätnachmittagssonne im Westen stand noch weit über dem Horizont, und in einer Stadt, die für seine nächtlichen Gelage berühmt war, wurden die südlichen und nördlichen Tore selten vor Aufgang des Mondes verriegelt wenn überhaupt. Die zweistöckige Mauer, die von den Einheimischen spöttisch die Sumpfmauer genannt wurde, kreiste die gesamte Stadt ein, ausgenommen den Abschnitt, der ans Meer grenzte. Die Mauer war nicht dazu da, Räuber und Plünderer aus der Stadt fern zu halten, sondern diente als Schutzwall, um die Stadt vor den giftigen Bewohnern der nahen Sümpfe zu bewahren. Deshalb wurden die Tore nur selten geschlossen und noch seltener bewacht. Die Bewohner Port Rauls mochten keine verschlossenen Türen, denn manchmal war eine schnelle Flucht unumgänglich.
Mikela lehnte sich im Sattel zurück. »Ich habe etwas zu erledigen und muss dazu in die Stadt«, rief sie hinauf. »Warum sind die Tore bewacht?«
»Was hast du in Port Raul zu tun?« rief der Wachmann zurück. Der Bursche war ziemlich beleibt und gab seine schwer verdienten Kupferstücke offenbar meistens rasch für Bier und gutes Essen aus. Eine unansehnliche Narbe vermutlich stammte sie von einem der ausgelassenen Spelunkenbesuche verlief vom rechten Ohr bis zur Nase. »Welche Kaste verbürgt sich für dich?«
Diese Frage überraschte Mikela. In Port Raul steckte für gewöhnlich niemand seine Nase in die Angelegenheiten anderer, jedenfalls niemand, der vorhatte, den Abend noch zu erleben. Neugier war nicht gerade ein gesunder Zeitvertreib in einer Stadt wie Port Raul.
»Von welchem Belang sind meine Angelegenheiten für die Garnison der Stadt?« entgegnete sie und legte einen drohenden Unterton in ihre Stimme.
»Seit dem Angriff auf die Stadt vor zwei Tagen«, antwortete die Wache, »müssen alle, die Einlass suchen, registriert werden, und eine der sechzehn Kasten der Stadt muss sich für den Besucher verbürgen.«
»Das ist mir neu«, entgegnete Mikela. »Ich wurde von einer Gruppe von Reisenden, die in die Stadt kommen will, als Führerin angeheuert, und ich bin gekommen, um sie abzuholen.«
»Eine Führerin…« Er schien eine Liste durchzugehen, die neben seinem Ellbogen lag. »Das würde dich unter den Schutz der Söldnerkaste stellen. Du musst dich sofort beim Oberhaupt der Kaste melden und seine Autorität anerkennen.«
»Ich gehöre keiner Kaste an. Ich möchte nur…«
»Ohne die Zugehörigkeit zu einer Kaste wird man dich einsperren, wenn man dich auf der Straße ohne die richtigen Papiere aufgreift.«
Mikela runzelte die Stirn. Dieses Verlangen wandte sich gegen alles, was Port Raul einst ausmachte. Die unbedingte Wahrung der Anonymität gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen, die jeden Handel in der Hafenstadt regelten. Der Angriff der besessenen Fischer hatte die Stadt stärker erschüttert, als Flint oder Er’ril annehmen konnten. Mikela kniff die Augen zusammen, während sie ihre Möglichkeiten abwägte. Sie vermutete, dass die neuen Gesetze nicht vornehmlich der Sicherheit und dem Schutz der Bürgerschaft dienten, sondern
Weitere Kostenlose Bücher