Alasea 03 - Das Buch der Rache
flüsterten hinter vorgehaltener Hand und deuteten auf den riesigen Baumwolf an ihrer Seite. Mikela war sich durchaus bewusst, dass die Städterinnen sie für verrückt halten mussten, weil sie allein durch die Straßen von Port Raul ritt; selbst hier im Südviertel, dem wohl am wenigsten gefährlichen Viertel der Stadt, würden sie das selbst nie wagen. Nur wenige Frauen gingen das Risiko ein, ohne Bewacher auf die Straße zu gehen. Mikela vermutete, dass jede Frau hier mindestens mit einem Dolch, wenn nicht sogar mit einer größeren Waffe unter dem Umhang ausgestattet war. Falls eine von ihnen angegriffen wurde, eilten alle anderen ihr zu Hilfe ein gegenseitiges Abkommen, das ihnen das Überleben sicherte.
Als Mikela an ihnen vorüberritt, sah sie in die wilden Augen dieser abgehärteten Frauen. Ganz gleich, ob nun ein Pakt bestand oder nicht, Mikela wusste, dass jede Frau sich gegen die andere wenden würde, wenn der richtige Preis bezahlt wurde. In Port Raul war ein Waffenstillstand kurzlebig und wurde nur aus der unmittelbaren Notwendigkeit heraus geboren. Die Solidarität, die hier gezeigt wurde, war so wenig von Bestand wie der Morgennebel.
Mikela ritt weiter durch das Südviertel, ihr Ziel war der Basar in der Stadtmitte, der Das Viereck genannt wurde, da dort alle vier Stadtteile aufeinander trafen. Während des Rittes dorthin wurde ihr bis auf ein paar verstohlene Blicke keine sonderlich große Beachtung geschenkt. Mikela war jedoch wachsam. Sie wusste, dass die Gegenwart des großen Wolfes und die zwei überkreuzten Schwertscheiden auf ihrem Rücken etwaige Angreifer nur vorübergehend abschreckten.
Sie wachte mit beiden Augen und Ohren über den Verkehrsfluss um sich herum. Auch Ferndal hatte seine Nackenhaare misstrauisch aufgestellt. Sobald ihm jemand zu nahe kam, erklang ein tiefes Knurren aus seiner Kehle.
Als Mikela den Wallach an einer Apotheke vorbeilenkte, wurden ihre Sinne plötzlich von einer Mischung aus verschiedenen elementaren Magik Strömen überrascht. Ihr Sucherinstinkt schaltete sich sofort ein. Sie zügelte das Pferd. Durch die Tür erspähte Mikela eng beieinander stehende Regale, die voll gestopft waren mit winzigen Gläsern und Flaschen mit verschiedenen Kräutern und Tränken darin. Hier handelte es sich nicht um eine gewöhnliche Apotheke, die lediglich Weidenrinden und Löwenzahntee verkaufte. Wem auch immer dieser Laden gehören mochte, er war der elementaren Künste des Heilens mächtig. Und wie Mikelas Sinne reagierten, handelte es sich hier um einen Heiler mit sehr ausgeprägten Fähigkeiten.
Gespannt hielt die Schwertkämpferin ihr Pferd an.
Im schattigen Innern des Geschäftes entdeckte sie die Apothekerin hinter einem Ladentisch. Mehrere Kerzen beleuchteten ihre Gesichtszüge. Die alte Frau trug ein einfaches graues Kleid und einen schwarzen Schal. Ihr Gesicht war faltig. Das schneeweiße Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der sich wie eine Schlange oben auf ihrem Kopf zusammenrollte. Obwohl die kleine Frau schon sehr alt war, fühlte Mikela, dass die vielen Winter sie hart gemacht hatten wie eine dem Wind ausgesetzte Zypresse. Sogar ihre Haut wies die Färbung von dunklem Holz auf.
Die Heilerin hinter dem Ladentisch schien zu Mikela herüberzustarren, offenbar hatte die Fremde auf dem Pferd vor ihrer Tür ihre Neugier geweckt. Aber Mikela wusste, dass dies nur ein Lichtspiel war. Die Frau konnte sie gar nicht sehen. Die Heilerin hatte keine Augen. Unter ihren Augenbrauen befand sich lediglich glatte Haut. Weder leere Augenhöhlen noch hässliche Narben entstellten ihr Gesicht. Mikela vermutete, dass die Heilerin schon so auf die Welt gekommen war. Arme Frau.
Um dem Trugbild, dass die alte Frau sie sehen konnte, noch mehr Schärfe zu verleihen, richtete sich die alte Heilerin auf und winkte ihr zu: Sie wollte, dass Mikela hineinging.
Ferndal fing an zu knurren und lenkte Mikelas Aufmerksamkeit von der Frau ab. Im Türrahmen hing nun plötzlich ein kleines Wesen mit dem Gesicht nach unten. Der Kopf des Wesens hatte die Größe eines reifen Granatapfels. Den Körper bedeckte zwar ein Fell von der Farbe glühenden Holzes, doch das Gesicht war so nackt wie das eines Menschen, beherrscht von zwei strahlenden schwarzen Augen und breiten grinsenden Lippen. Das Tier schnatterte ihnen etwas entgegen und kletterte am Türrahmen herunter, wobei kleine mit Krallen versehene Hände und Füße zum Vorschein kamen, die das Holz gut greifen konnten. Auch der lange, schwarz
Weitere Kostenlose Bücher