Alasea 03 - Das Buch der Rache
umherflog und durch die Augen eines großen Tamrink Weibchens sah. Es schwang sich durch die Äste und war neugierig auf das brüllende nackte Wesen, das da neben seinem Nest lag.«
»Du?«
Sie nickte. »Die Herde des Weibchens nahm mich auf und nährte mich. Mit der Zeit wurde meine Bindung an die Tamrink immer fester, und ich sah durch viele Augen.«
»Diese Tiere haben dich wirklich aufgezogen?«
Mama Freda lachte bei diesem absurden Gedanken. »Nein, ich bezweifle, dass ich mehr als einen Mond bei der Herde verbrachte. Eines Tages entdeckte mich ein Jäger aus meinem Stamm in der Nähe des Tamrink Nestes und stellte fest, dass ich noch am Leben war. Ich wurde zurück ins Dorf gebracht und von allen verehrt. Sie glaubten, dass die Dschungelgötter mich gezeichnet und auf mich aufgepasst hätten. So wuchs ich also bei meinem Volk auf, aber die Verbindung zu den Tamrink habe ich niemals aufgegeben. Im Laufe der Zeit erlernte ich die Heilkünste und wurde Heilerin, anerkannt von allen Stämmen in Yrendl.« Mama Freda drehte den Kopf zur Seite, und ihre Stimme wurde leiser. »Doch eines Tages wurde unser Dorf von Sklavenhändlern angegriffen. Ich glaube, sie kamen, weil sie die Gerüchte von einer blinden Frau gehört hatten, die sehen konnte. Sie nahmen mich mit und auch das Tamrink Junge, das ich selbst aufziehen wollte.«
»Tikal?«
»Ja. Drei Winter lang zogen wir durch ein Land nördlich von hier und hielten in Küstenstädten und Häfen, um meine besondere Gabe vorzuführen.«
»Und wie konntest du entkommen?« Sklavenhändler waren bekannt dafür, dass sie ganz besonders gut auf ihre Handelsware aufpassten.
Eine gewisse Bitterkeit schwang nun in Mama Fredas Stimme mit. Sie wandte sich wieder Mikela zu. »Manche Geschichten vergisst man besser und schließt sie für immer im Herzen ein.«
Mikela respektierte die Worte der Frau. Auch in ihrem Leben hatte es Abschnitte gegeben, über die sie nicht laut zu sprechen wünschte. »Dann bist du also hier in Port Raul gelandet. Aber warum ausgerechnet meine Gefährten? Warum hast du ihnen Unterkunft gewährt?«
»Wie schon gesagt, Großmut hat seinen Preis in dieser Stadt.«
»Was willst du? Ich habe Silberstücke, ja sogar eine Goldmünze.«
»Nein.«
»Was dann?«
»Ich bitte euch, mich mitzunehmen, wenn euer Gefährte wieder reisetauglich ist und ihr aufbrecht.«
Mikela zuckte zusammen. Dieser Preis war höher als erwartet und mehr, als sie bezahlen wollte. »Warum? Warum willst du mit uns kommen?«
»Ich möchte eure Hexe kennen lernen. Das Mädchen Elena.«
Mikela trat einen Schritt zurück. Sie starrte ihre Gefährten an, suchte nach dem Verräter, der ihr Geheimnis so freimütig ausgeplaudert hatte.
Tol’chuk richtete sich auf, was so wirkte, als würde sich ein Felsen bewegen. »Wir haben kein Wort gesagt«, brummte er.
Mogwied saß in seinem Stuhl, die Augen weit aufgerissen vor Schreck. Nur ein leiser quietschender Laut der Verneinung kam über seine Lippen, als Mikela in seine Richtung blickte.
»Lass sie in Frieden«, schalt Mama Freda die Schwertkämpferin. »Keiner hat etwas Falsches gesagt oder das Vertrauen missbraucht, das man ihm entgegengebracht hat.«
»Woher weißt du dann von unserer Sache?«
Die alte Heilerin streichelte das Fell ihres Lieblings. Der kleine Tamrink vergrub sich noch tiefer in ihrem Schoß und gab sanfte, gurrende Laute von sich. »Ich ließ Tikal gestern im Laden zurück, als ich den Heiltee für euren verletzten Freund zubereitete. Den Weg zu meinem Lagerraum und in die Küche finde ich auch ohne seine Augen. Während meiner Abwesenheit sprachen die anderen über dich, über Elena und über das Buch, das ihr sucht, das Buch des Blutes.«
»Aber wie konntest du…?«
»Tikal und ich sind nicht nur durch seine Sehkraft verbunden.« Sie wackelte am Ohr des Tamrink.
In einer dunklen Gasse Port Rauls stillte die Kreatur ihre Blutgier an dem noch zuckenden Herzen ihrer jungen Beute, einem Mädchen, das eben erst seine erste Blutung gehabt hatte. Als das Monstrum fertig war, hob es seine schwarze Schnauze aus dem blutigen, zerfledderten Brustkorb und heulte den aufsteigenden Mond an. Sein hungriger Ruf hallte durch die schäbigen Tavernen und Bordelle. Das Wesen schlich in den dunklen Schatten, es kroch auf allen vieren, und die Krallen gruben sich in den Unrat der Gasse. Es wünschte, es könnte jede Nacht jagen aber es wusste auch, was sein Meister wollte.
Niemand durfte Verdacht schöpfen…
Das Scheusal
Weitere Kostenlose Bücher