Alasea 03 - Das Buch der Rache
Bedenken wegen Joach beiseite. Seine eigentliche Sorge lag, eingewickelt in dicke Wolldecken, vor ihm.
Er’ril betrachtete das Mädchen, die Finger vor Kummer zur Faust geballt. Wenn sie starb, würde auch die letzte Möglichkeit, Alasea zu befreien, vertan sein. Aber tief in seinem Herzen wusste Er’ril, dass es nicht das Schicksal seines Landes war, das ihn so bekümmerte, sondern eine ganz einfache Angst: die Angst, Elena zu verlieren. Während seines ganzen langen Lebens hatte er niemals eine jüngere Schwester gehabt, auf die er hatte Acht geben müssen, und auch keine Tochter, die er abgöttisch hätte lieben können. Irgendwann während ihrer dunklen Reise hierher war Elena jedoch beides für ihn geworden vielleicht auch mehr.
Aber wer war sie wirklich? Hexe, Frau oder Retterin?
Er’ril seufzte. Er wusste keine Antwort darauf.
In ihren blassen Gesichtszügen begannen die ersten Anzeichen von Weiblichkeit durch die Rundungen des Kindseins zu schimmern: die sanft geschwungenen Wangenknochen, die Fülle der Lippen. Er strich ihr eine widerspenstige Haarsträhne aus der zarten Stirn. Seit wann war eigentlich die schwarze Farbe wieder aus ihrem Haar gewichen? Sie musste es vor ihm verborgen haben, in der Hoffnung, er würde es nicht bemerken. Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf seinen Lippen. Selbst mit der unerträglichen Bürde des Schicksals von Alasea auf den Schultern wogen auch die simplen Eitelkeiten eines jungen Mädchens schwer in ihrem Herzen. Dieser Gedanke heiterte ihn etwas auf.
Aber als er sich wieder zurücklehnte, verblasste das Lächeln. Sein Blick wanderte hinaus zum Mond, der durch das kleine Bullauge in die Kabine leuchtete. »Retterin oder nicht«, murmelte er in die Stille des Raumes, »ich werde nicht zusehen, wie du stirbst, Elena.«
5
Mikela erwachte aus der Dunkelheit und fand sich in strahlendem Licht wieder, das so grell war, dass es sie blendete. Sie blinzelte gegen das helle Licht an. War dies die Große Brücke ins nächste Leben? Wenn dem so war, so hätte sie niemals vermutet, dass der Übergang so schmerzhaft sein würde. Ihr ganzer Leib glühte innen und außen vor Juckreiz aber was war dieses innen und außen? Sie hatte kein Körpergefühl, nur die Schmerzen zeigten ihr die Grenzen ihrer Gestalt auf.
»Beweg dich nicht, Kind«, murmelte eine körperlose Stimme in ihrem Kopf.
»W wo bin ich?« fragte sie, wobei sie nicht wusste, ob sie mit dem Mund oder nur in Gedanken sprach.
Wie auch immer, der Sprecher hatte ihre Frage gehört. »Du bist in Sicherheit zumindest im Augenblick.«
Die Stimme… Mikela kannte diese Stimme. »Mutter…?« Aber als sie das Wort ausgesprochen hatte, wusste sie, dass das nicht der richtige Ausdruck war. »Mama…?« Dann kehrten die Erinnerungen wie ein leise plätschernder Bach zurück Bilder, Geräusche, Gerüche, alles ordnete sich wieder. Mikela erinnerte sich an den warmen Raum, den verwundeten Elv’en und an das Haustier mit der goldenen Mähne, das der alten Heilerin gehörte. »Mama Freda.«
»Richtig, Kind. Kämpfe nicht dagegen an. Die Paka’golo ist noch nicht fertig mit ihrer Arbeit.«
Mikela spürte ihren Körper noch immer nicht. Lag sie auf dem Rücken oder auf dem Bauch? Das blendende Licht füllte ihre Gedanken. Plötzlich schüttelte ein gnadenloser Krampf den Kern ihres Seins. Sie würgte heftig.
»Halte ihren Kopf zur Seite«, sagte Mama Freda. »Sie wird ersticken, wenn du nicht aufpasst. Ja, so… Sehr gut.«
Mikela hustete und spuckte. Was geschah mit ihr? Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war das Gift aus ihrem Jadefläschchen, das sie geschluckt hatte. Sie wusste noch, dass sie zu Boden gesunken war, froh darüber, Elena mit ihrem eigenen Tod beschützt zu haben, und erleichtert, dass das Gift schmerz und geschmacklos wirkte. Warum war sie noch am Leben? Für einen schrecklichen Moment beschlich sie der Gedanke, das Mittel habe versagt. Sie lebte. Würde man ihr nun das Geheimnis von Elenas Aufenthaltsort entreißen?
»Nein… ich darf nicht… Elena…«
»Hör auf, dich dagegen zu wehren!« befahl Mama Freda. »Ich sagte doch, du bist in Sicherheit. Die Soldaten der Stadtwache sind mit ihrer Beute abgezogen. Sie dachten, du wärst tot, vergiftet.«
Eine neue Stimme kam hinzu. »Sie war wirklich tot.«
»Psst. Der Tod ist nicht so endgültig, wie die meisten glauben. Es ist wie mit dem Krupp. Früh behandelt, ist er durchaus heilbar.«
Ein verächtliches Schnauben folgte. »Für mich sieht
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