Alasea 03 - Das Buch der Rache
als sie um die nächste Kurve bogen, kam vor ihnen die Stadtmauer in Sicht. Im Gegensatz zum vorangegangenen Abend waren die Tore nun mit Fackeln hell erleuchtet. Mikela zügelte das Pferd und bedeutete dem Rest der Truppe, dies auch zu tun. Mindestens zwanzig Männer bewachten das Tor. Die Stadt war durch die Morde in der Garnison offenbar in Angst und Schrecken versetzt, und nun herrschte eine Unruhe wie in einem Wespennest.
»Tol’chuk soll in den Wagen steigen und sich verstecken«, zischte Mikela nach hinten. Der Og’er konnte sich allein durch Kleidung nicht tarnen. Mit Sicherheit hatten viele Städter mittlerweile von dem geflüchteten Og’er gehört, und seine Gegenwart würde Verdacht erregen.
Als ihr Sohn schließlich im Wagen versteckt und mit einer dicken Plane zugedeckt war, umfasste Mikela die Zügel fester und ritt auf die hell erleuchteten Tore zu. Der ölige Rauch aus den vielen Fackeln brannte ihr in den Augen. Draußen über dem Meer braute sich ein dichter Dunst zusammen, was Mikela sehr begrüßte. Der dichte Nebel würde zu vorgerückter Stunde einen feinen Umhang weben, der die Truppe und ihr Tun verhüllen würde. Jaston lenkte seinen Hengst vor Mikelas Ross. »Vielleicht sollte ich das Reden übernehmen«, bot er an. »Die Sumpfkarawanen sind Port Rauls einzige Möglichkeit, mit den benachbarten Städten, die keinen Zugang zum Meer haben, Handel zu treiben. Die Menschen werden es nicht wagen, sich mit uns anzulegen.«
Mikela winkte ihn weiter. Sie hatte ohnehin kein großes Verlangen danach, mit den unwirschen Männern der Stadtwache zu verhandeln. Außerdem bestand die Gefahr, dass der Torwächter sie erkannte, wenn sie die Gestalt nicht wechselte. Obwohl sie jederzeit ihr Gesicht verwandeln konnte, wollte Mikela ihre si’lurischen Fähigkeiten nur bemühen, wenn es unbedingt notwendig war. Sie fühlte sich noch müde von der letzten Verwandlung in die Gestalt des alten Weibes. Zu viele Gestaltwandlungen zehrten an den Kräften der Si’lura, ihrem Körper waren Grenzen gesetzt. Wenn diese erreicht waren, brauchte der Leib Ruhe, um sich wieder zu erholen.
Doch die Erschöpfung war nicht der wahre Grund dafür, dass Mikela davon absah, die Gestalt zu wechseln. Sie starrte auf den Sumpfmann, der vor ihr auf die Stadttore zuritt. Sie hatte ihm nie etwas von ihrem Si’lura Erbe erzählt. Sie war immer der Meinung gewesen, es gäbe keinen triftigen Grund, es ihm zu sagen. Je weniger Menschen davon wussten, desto besser, hatte sie gedacht auch weil die meisten Menschen den Gestaltwandlern sehr skeptisch gegenüberstanden. Es war eine rein logische Entscheidung gewesen. Aber tief in ihrem Innern schämte sich Mikela. Nicht wegen ihres Erbes, sondern wegen des Geheimnisses, das sie vor einem Mann hatte, den sie einmal geliebt hatte. Sie erinnerte sich an die Blicke der Angst und des Abscheus, die ihre Verwandlungen bei den Menschen stets hervorgerufen hatten. Sie hätte es nicht ertragen, wenn Jaston ebenso reagiert hätte.
Ungehalten stieß sie ihrem Wallach die Fersen in die Flanken, um die Lücke zu Jastons Hengst zu schließen.
Der Mann aus den Sümpfen zügelte bereits sein Pferd vor den dicken Falltoren aus Eisen. Er schob die Kapuze des Umhangs zurück und zeigte im Fackellicht sein narbiges Gesicht. Da ihm mittlerweile die angewiderten Blicke von Fremden nichts mehr anhaben konnten, zuckte er auch vor einem so gnadenlosen Licht nicht zurück. Die Pfade der Sümpfe und die Liebe einer Hexe hatten ihm geholfen, seine Angst zu heilen. Und dieser Mut ließ Mikelas Schande noch größer erscheinen.
»He! Torwächter!« rief Jaston.
Über die Brüstung beugte sich eine schemenhafte Gestalt. »Wer ist da?« fragte ein Wächter mit schriller Stimme.
Jaston deutete auf die Karawane hinter sich. »Nach was sieht das wohl aus? Wir haben einen langen Weg zurückgelegt, um hier unsere Waren zu verkaufen. Öffne das Tor. Wir haben einen langen Weg hinter uns und würden uns gern den Straßenstaub aus der Kehle waschen mit dem Gesöff, das ihr hier Bier nennt.«
Der Wachmann lachte glucksend. »Gesöff? Nur weil eure Mütter euch die Münder mit Sumpfbier verbrannt haben, müsst ihr unser edles Getränk nicht beleidigen.«
»Dann öffne das Tor, und beweis uns das Gegenteil!« Jaston klopfte auf ein kleines Fass, das er hinter dem Sattel festgebunden hatte. »Ich habe hier ein kleines Fass Sumpfbier. Du und deine Kameraden könntet dieses Getränk, das nur etwas für richtige Männer ist,
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