Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
aber kein Hornsignal kündigte ihre Ankunft an. Auf den Simsen der Wachposten regte sich nichts. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie die getarnten Wächter auf den hochgelegenen Posten auszumachen. Entweder versteckten sie sich besonders gut, oder die Posten waren nicht besetzt.
Leichtfüßig wie eine Spinne im Dunkeln huschte ein leises Unbehagen über ihre Haut, doch vor ihnen verschwand der Rest der Karawane in dem schmalen Durchlass, ohne dass irgendetwas auf eine Katastrophe hindeutete.
Kesla sah den Schamanen von der Seite an. Er schlenderte weiterhin scheinbar unbekümmert hinter den anderen her. Aber warum hatte er dann überhaupt mit ihr gesprochen? Warum erging er sich in verschlüsselten Andeutungen, ohne seinen Verdacht klar zu äußern?
»Eine Prüfung«, murmelte er, als läse er in ihrem Herzen. »Ein Aufnahmeritual.«
»Für mich?«
Er zuckte die Achseln. »Der junge Mann muss herausfinden, wie weit seine Gabe, seine Kräfte reichen.«
»Joach?«
Wieder dieses Achselzucken.
Sie wurde von Panik erfasst. Mit großen Augen starrte sie auf den Felsturm. Die Sonne malte Schatten und rote Rinnsale auf den Stein, als liefe Blut über die Wände.
»Ich muss ihm helfen!« Sie wollte losrennen, aber der Schamane hielt ihren Arm fest.
»Es ist seine Prüfung, Kesla. Du kannst sie nicht für ihn bestehen.«
Kesla war jetzt außer sich vor Angst und Sorge. Mit einem besonderen Trick befreite sie sich aus Parthus’ Griff und rannte auf die Festung zu. Doch während ihre Füße über den Sand flogen, erkannte sie auch ohne die prophetischen Worte des Schamanen, dass sie zu spät kommen würde.
Joach schritt als Erster durch die eisernen Tore des Alkazars. Hinter ihm wurde die Bahre mit Richald in die Burg getragen. Zwei Dinge fielen ihm sofort auf.
Zum einen war die Burg wunderschön. Als er in den Hof trat, lag die Festung der Meuchler Gilde offen vor ihm. Er legte den Kopf in den Nacken. Unglaublich schlanke Türme, gewundene Turmspitzen und zahlreiche Statuen zierten, aus dem Kern des großen Sandsteinblocks geschnitten, die Felswände.
Doch als er die anderen nachkommen hörte, überschattete eine zweite Wahrnehmung sein ehrfürchtiges Staunen. Hant setzte Scheschon ab und sprach aus, was Joach nur gedacht hatte: »Wo sind sie denn alle?«
Die Festung war verlassen. Niemand stand am Tor. Niemand kam heraus, um sie zu begrüßen. Joach kannte die herrschenden Sitten nicht, aber dass man das Tor unbewacht ließ, kam ihm doch sehr merkwürdig vor.
Kast erschien an seiner anderen Seite, dicht gefolgt von Saag wan. »Das gefällt mir nicht«, brummte der große Blutreiter.
Wie um diese Aussage zu unterstreichen, schloss sich hinter ihnen das Tor des Alkazars. Das Fallgatter mit den scharfen Spitzen rasselte nieder. Das Geräusch hatte etwas Endgültiges.
Joach fuhr herum. Jetzt waren sie durch Eisenstangen von den Stammesleuten getrennt, die darüber ebenso erschrocken zu sein schienen wie er. Nur Innsu, der hoch gewachsene, dunkelhäutige Meuchler, war mit zweien seiner Männer auf dieser Seite des Tores gefangen.
»Hier stimmt etwas nicht«, sagte Innsu, drehte sich um und warf seinen Umhang zurück. Das Krummschwert blitzte im Sonnenlicht, das von oben in den Hof fiel.
»Eine Falle«, vermutete Saag wan.
Auch Kast hatte sein Schwert gezogen. Die Elv’en stellten Richalds Trage auf das Pflaster und holten unter den Umhängen ihre Armbrüste hervor. Hant schob Scheschon hinter sich und löste eine Kurzaxt von seinem Gürtel.
Joach wollte nach dem Nachtglasdolch greifen, aber sein Gürtel war leer. Damit war er wehrlos und konnte nichts tun, als die Felsen zu beobachten und zu warten, bis sich die ersten Angreifer zeigten.
Auf der anderen Hofseite wurde eine dicke Doppeltür mit einer Wucht aufgestoßen, die verriet, dass dabei mehr als körperliche Kraft im Spiel war. Die hölzernen Flügel krachten gegen den Stein, wurden aus den eisernen Angeln gerissen und fielen zu Boden. Zwei Gestalten traten aus der dunklen Burg in den Sonnenschein.
Die erste war eine auffallende Erscheinung, ein hoch gewachsener Mann in einem weiten, roten Wüstenumhang. Sein bleiches Gesicht und das schneeweiße Haar muteten in diesem Land der Dunkelhäutigen fremdartig an. Doch vor allem zogen seine Augen alle Blicke auf sich. Sie sprühten vor Zorn, als er die Neuankömmlinge musterte. »Ich sehe das Verhängnis über uns hereinbrechen«, donnerte er. »Ich erblicke einen Knaben, der Unheil bringt über
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